Bundespräsident und nationale Identität:Gauck und die neue deutsche Frage

Herkunft, Familiengeschichte oder Grundwerte? Eine Definition dessen, was die Deutschen jenseits der Geographie ausmacht, ist schwierig. Was ist das Deutsche an dem Fußball-Millionär Mesut Özil oder an dem rechten Mörder Uwe Mundlos? Welche Rechte und Pflichten sind mit dem Deutschsein verbunden? Wenn es gut wird, bietet ein Bundespräsident Gauck darauf Antworten an.

Kurt Kister

An diesem Sonntag wird Joachim Gauck zum Bundespräsidenten gewählt werden. Wer sich nur ein wenig für Politik interessiert, der weiß, dass Gauck aus der ehemaligen DDR stammt, wo er zweifelsfrei zu den Dissidenten zählte. Dass ihm dies sofort nach seiner Nominierung etliche Protagonisten der deutschen Nörgel-Gesellschaft absprechen wollten, ist leider typisch geworden für die jederzeitige Bereitschaft zur überkritischen bis üblen Nachrede in diesem Land.

Gauck stellt sich den Bundestagfraktionen vor

Was bedeutet es, deutsch zu sein? Und welche Rechte und Pflichten sind damit verbunden? Diese Fragen wird ein Bundespräsident Gauck beantworten müssen.

(Foto: dpa)

Weil Christian Wulff sich so verhielt, wie er sich verhielt, hat sich die Nachrede-Bereitschaft in jüngster Zeit zu einer Art Lust entwickelt. Privatleben eines Amtsträgers gilt vielen mindestens als der Beginn von Korruption, wenn nicht Verschwörung; zumal wenn Flugzeuge oder Urlaube dabei eine Rolle spielen.

Jedes unvollständige Zitat, das die im Netz stationierten Überfallkommandos der Gedankenpolizei epidemisch verbreiten, wird als Ausweis latenter Rechtslastigkeit oder wenigstens von Ignoranz gegenüber Teilen des allgemein zu akzeptierenden Gedankenguts gewertet.

Gauck hat Letzteres zum Beispiel wegen eines vor geraumer Zeit dahingesprochenen Halbsatzes über den "Mut" des Herrn Sarrazin erlebt. Jeder, der viel spricht oder schreibt, gibt auch Fragwürdiges von sich. Manches davon ist sehr an den Tag gebunden, wird aber genau deswegen Monate oder Jahre später von Gesinnungs-Pathologen seziert, die stets den Vorteil der zurückschauenden Weisheit nutzen, welche zur Grundausstattung des Besserwissers zählt.

Jenseits dieser Kulturkritik bleibt eines beim Blick auf die Wahl wichtig, so seltsam es auch klingen mag: Nach Horst Köhler und Christian Wulff ist eine von Joachim Gaucks bedeutendsten Aufgaben, dass er sein Amt von Sonntag an bis zum Ende der Wahlperiode in fünf Jahren auch ausübt - vorausgesetzt jener Gott, an den auch Gauck glaubt, gibt ihm die Gesundheit dafür.

Kein Präsident war unumstritten

Es darf nicht normal werden, dass der Bundespräsident vorzeitig geht. Eine der vielen Begründungen für die Existenz des Amtes liegt darin, dass der Präsident als eine dem demokratischen Meinungskampf der Parlamente enthobene Institution den Staat als Gemeinwesen verkörpert. Dafür aber bedarf es der Stabilität dieser Institution.

Den Mantel des Bundespräsidenten darf man nicht niederwerfen (und schon gar nicht ablegen müssen), so wie man eine Koalition beendet oder einen Ministersessel räumt. Dieses Amt ist größer, weswegen gerade nach Wulff darauf geachtet werden sollte, dass niemand mehr benannt wird, der die Gefahr in sich birgt, dass er zu klein ist für das einzigartige Wahlamt, das gleichzeitig eine Berufung ist.

Kein Präsident war unumstritten, und schon über Theodor Heuss sagten damals viele Rechte und manche Linke: "Mein Präsident ist das nicht." Das macht prinzipiell nichts aus, denn einen Menschen, der wirklich für alle steht, kann es nicht geben, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sich jeder in dem Präsidenten wiedererkennt. Trotzdem aber muss der Mensch, der in das Amt gewählt wird, die natürliche Autorität haben, die Respekt gebietet, oder wenigstens das Amt so führen, dass dieser Respekt entsteht.

Trotzdem dürfen Parteien einen Kandidaten auch unter parteipolitischen Gesichtspunkten nominieren. Wenn dies aber zum Hauptzweck wird - wie etwa im Falle Wulffs oder auch bei der von der Linkspartei zusammengestolperten Trotz-Kandidatur von Beate Klarsfeld -, dann verstoßen die Parteien gegen jenes institutionalisierte Vertrauen, das ihnen die Verfassung durch die Besetzung der Bundesversammlung ausgesprochen hat.

Gewiss, man hat die Bundespräsidentenwahl auch immer wieder als Menetekel oder Beweis für einen Regierungswechsel verstanden und/oder organisiert. Das war so bei Gustav Heinemann oder Horst Köhler. Dennoch waren die meisten Nominierten vor Wulff respektgebietende Leute, die, sieht man vom abrupten Ende der Köhler-Präsidentschaft ab, dem Amt mehr oder weniger gut gerecht wurden.

Gauck und die deutsche Identitätsdebatte

Die ersten sechs Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Richard von Weizsäcker mussten sich einem überwölbenden Thema stellen: der deutschen Vergangenheit, den Nazi-Verbrechen und der davon ursächlich abhängenden deutschen Teilung. Diese Bundespräsidenten gehörten alle zu jener Generation, die Täter, Mitläufer und wenige Widerständler hervorgebracht hat.

Im Ausland wurden sie daran gemessen, wie die Bundesrepublik mit der damals jüngsten deutschen Vergangenheit umging. Im Inland waren sie Präsidenten gewordene Symbole für Mitläufertum (Karl Carstens), für Aussöhnung (Heinemann) oder für nachdenkliche Reue (Weizsäcker). Stets schwebten über ihnen Fragen: Wie konnte das in Deutschland geschehen, und wie viel davon ist noch in uns?

Auch wenn die historische Verantwortung wichtig bleibt, hat sich dennoch die Ära, in der diese Problematik übermächtig war, dem Ende zugeneigt. Das überwölbende Thema heute ist die Integration im weiteren Sinne. Es geht dabei nicht nur, wie das Wulff versucht hat, um Deutsche, Nicht-Deutsche und Deutsche mit nichtdeutschem Hintergrund, sondern auch immer noch um Deutsche und Deutsche. Zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung bleiben viele Unterschiede zwischen Ost und West.

Gauck und durchaus auch Angela Merkel werden im Westen Deutschlands als Ostdeutsche wahrgenommen, in Teilen Ostdeutschlands dagegen als Hybride, welche der Vereinigungsprozess hervorgebracht hat. Eine Definition dessen, was die Deutschen jenseits der Geographie ausmacht, ist viel schwieriger geworden - Herkunft, Familiengeschichte, Grundwerte (und welche)? Was ist das Deutsche an dem Fußball-Millionär Mesut Özil oder an dem NSU-Mörder Uwe Mundlos?

Ein Beispiel für die anstehende Identitätsdebatte ist Gaucks Freiheitsbegriff. Der Ostdeutsche Gauck hat Freiheit so lange vermisst, dass sie lebensleitend für ihn geworden ist. Für viele Westdeutsche dagegen ist Freiheit so selbstverständlich, dass manche Gaucks Betonung ihrer Bedeutung schon wieder für verdächtig halten.

Verunsicherung in Deutschland

Unter Linken in Ost und West gilt "Freiheit" bisweilen als neoliberaler Kampfbegriff, so wie vice versa manche Anzugbuben in der FDP oder auf Springer-Meinungsseiten "Gerechtigkeit" als kryptosozialistisch einstufen.

Hinter der stabilen Fassade des relativ reichen und mächtigen Deutschland herrscht Verunsicherung. Es ist, anders als in den ersten 40 Jahren der Republik, nicht mehr die Verunsicherung darüber, was Deutschland überhaupt ist. In den Jahren 1989/90 endete in Europa nicht nur der von einer Einheitspartei organisierte, freiheitsfeindliche Staatssozialismus, sondern eben auch die Nachkriegszeit.

Joachim Gauck ist geprägt von dieser Vergangenheit, viel stärker als seine beiden Vorgänger. Was des Deutschen Vaterland ist, wissen wir heute wieder. Wer aber die Deutschen sind, wer dazu gehört und was dieses Dazugehören an Rechten und Pflichten bedeutet, das ist die neue deutsche Frage. Wenn es gut wird, bietet Gauck darauf Antworten an.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: