75 Jahre Kriegsende:"Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben"

75 Jahre Kriegsende: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seiner Rede

Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede an der Neuen Wache in Berlin

(Foto: REUTERS)

Zum 8. Mai attackiert der Bundespräsident all jene, die einen Schlussstrich fordern. Am Jahrestag des Kriegsendes sagt Frank-Walter Steinmeier: "Nicht das Erinnern ist eine Last. Das Nichterinnern wird zur Last."

Von Stefan Braun, Berlin

Der Bundespräsident neigt nicht zu besonderen Zuspitzungen. Erst recht nicht bei Gedenkfeiern. In diesem Jahr aber und an diesem 8. Mai hat sich Frank-Walter Steinmeier genau das vorgenommen. 75 Jahre ist das Kriegsende an diesem Freitag nun vorbei. Und ausgerechnet im 75. Jahr begeht Deutschland diesen schweren und wichtigen Tag fast so alleine wie damals. Jedenfalls räumlich betrachtet. Die Corona-Pandemie zwingt alle zu sich nach Hause. Die Briten, die Franzosen, die Russen, die Deutschen und all die anderen - sie gedenken für sich alleine.

Vielleicht, ja wahrscheinlich sogar ist das der Grund dafür, dass der Bundespräsident dieses Mal vor allem zum eigenen Volk spricht. Mit mahnenden Worten und einer sehr klaren Botschaft: Kümmert euch um Europa. Deutschland habe sich nach dem Krieg geschworen: "Nie wieder!" Für ihn, den Bundespräsidenten, heiße das vor allem: "Nie wieder allein!" Dieser Satz gelte nirgendwo so sehr wie in Europa. "Wir müssen als Europäer denken, fühlen und handeln", sagt Steinmeier. "Wenn wir Europa, auch in und nach dieser Pandemie, nicht zusammenhalten, dann erweisen wir uns des 8. Mai nicht als würdig."

Es ist ein hoher, ein sehr hoher Anspruch, den der Bundespräsident da formuliert. Er hat in diesem Jahr schon häufiger auf Deutschlands Schuld und Deutschlands Verpflichtung hingewiesen. Er hat in diesem Sinne schon in Yad Vashem gesprochen und ist kurz darauf in Auschwitz gewesen. So gesehen ist seine Rede an diesem 8. Mai vor der Neuen Wache in Berlin nur eine Fortsetzung des auch damals schon Gesagten. Aber hier, im Erinnern an das Kriegsende, geht Steinmeier noch einen Schritt weiter: "Wenn Europa scheitert, scheitert auch das 'Nie wieder!'"

Wer will, kann das als deutliche Kritik lesen. Als Kritik an deutscher Zögerlichkeit im Allgemeinen, vor allem in der aktuellen Krise; aber auch als Kritik an einer Bundesregierung, die offenbar aus Sicht Steinmeiers noch nicht alles tut, um Europa zu retten. Sei es die Frage nach mehr Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie; sei es die Frage nach einer gemeinsamen Haftung für nötige Wiederaufbau-Kredite; sei es die Frage, ob alles getan wurde, um die für Europas Seele so heiklen Grenzschließungen alsbald zu beenden.

Nichts mache das Grundgesetz so wichtig wie sein allererster Artikel

Weitaus harscher allerdings geht Steinmeier mit denen ins Gericht, die von Erinnerung und Verantwortung gar nichts mehr wissen wollen. Nichts mache das Grundgesetz so wichtig wie sein allererster Artikel: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." In diesen ersten Satz sei für alle "sichtbar eingeschrieben, was in Auschwitz, was in Krieg und Diktatur geschehen ist". Die dringlichste Lehre für den Bundespräsidenten: "Nicht das Erinnern ist eine Last - das Nichterinnern wird zur Last."

Wem das gilt, ist unverkennbar, auch wenn Steinmeier den Namen des früheren AfD-Parteichefs Alexander Gauland nicht nennt. Gauland hatte vor wenigen Tagen erklärt, der 8. Mai sei für die Gefangenen eine Befreiung gewesen, für die Deutschen aber auch "ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit". Er ließ offen, was das alles genauer heißen sollte. Aber die Botschaft war klar: Für ihn, Alexander Gauland, sei das kein Tag der Befreiung.

Steinmeier nun greift das Wort Befreiung, das einst Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 geprägt hat, in seiner Rede immer wieder auf. Und geht noch einen Schritt weiter: Der Tag sei auch ein Tag der Dankbarkeit. Insbesondere beim Blick auf das, was die früheren Kriegsgegner Deutschland nach dem Krieg alles ermöglicht hätten. Nur weil sich Deutschland Schritt für Schritt seiner Geschichte gestellt habe, hätten alle anderen dem Land neues Vertrauen geschenkt. Und nur deshalb könne sich Deutschland heute auch selbst vertrauen. Darin liege für ihn ein "aufgeklärter, demokratischer Patriotismus". Es gebe keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche - "ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham".

Für Leute wie Gauland mag das schmerzhaft sein und wie eine Provokation wirken. Für Steinmeier ist es der "Wesenskern unserer Demokratie". Und das führt er weiter aus. Die deutsche Geschichte, sie sei eine gebrochene Geschichte, mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. "Das bricht uns das Herz", so Steinmeier. Und das bedeute: "Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben."

Man kann diese Rede als den Versuch werten, alle Demokraten wachzurütteln

Nein, Steinmeier hat sich nicht vorgenommen, das Land und seine Menschen an diesem 8. Mai zu schonen. Im Gegenteil: Man kann diese Rede als den Versuch werten, alle Demokraten wachzurütteln. "Damals wurden wir befreit", sagt er an einer zentralen Stelle. "Heute müssen wir uns selbst befreien." Wovor, daran lässt das Staatsoberhaupt keinen Zweifel: "Von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationalen. Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung." Dass das schon längst nicht mehr nur abstrakt ist, auch daran erinnert Steinmeier. "Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer in Hanau, Halle und Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen!"

Wie sagt es Steinmeier gegen Ende: "Ich bitte alle Deutschen: Gedenken Sie heute in Stille der Opfer des Krieges." Und etwas später fügt er noch an: "Bedenken Sie, was der 8. Mai, was die Befreiung für Ihr Leben und Ihr Handeln bedeutet!"

Für sich selbst hat er darauf eine sehr klare Antwort: "Nicht das Bekenntnis zur Verantwortung ist eine Schande - das Leugnen ist eine Schande."

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