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Bundespräsident:Gauck nennt Entwicklung der Türkei erschreckend

"Muss man denn Twitter oder YouTube verbieten?" Bundespräsident Gauck macht bei seinem Staatsbesuch in der Türkei deutlich, wie sehr ihm die Politik des türkischen Regierungschefs Erdoğan missfällt. Vor Studenten in Ankara sagt Gauck, er mache sich Sorgen um die türkische Demokratie.

  • Bundespräsident Gauck kritisiert den Kurs des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdoğan mit ungewöhnlich scharfen Worten
  • Vor Studenten spricht Gauck von einer "Gefährdung der Demokratie"
  • Seine Kritik rechtfertigt er mit Erfahrungen in der DDR

Kritik an Pressezensur und Beeinflussung der Justiz: Bundespräsident Joachim Gauck spricht vor Studenten der Technischen Universität in Ankara von einer "Gefährdung der Demokratie" in der Türkei. Er beobachte mit Sorge Tendenzen, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung zu beschränken. "Ich gestehe: Diese Entwicklung erschreckt mich - auch und besonders, wenn Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden", sagt Gauck. "Muss man denn Twitter oder YouTube verbieten?", hatte er vormittags bei einer Pressekonferenz mit Staatspräsident Abdullah Gül gesagt. Es sei zu fragen, warum eine so starke Regierung wie die Erdoğans die Justiz beeinflussen müsse.

Gauck rechtfertigt Kritik mit seiner DDR-Erfahrung: Bis zu seinem 50. Lebensjahr habe er in einem Land gelebt, in dem eine Partei darüber entschied, was Recht war und was Unrecht, sagt Gauck in seiner Rede vor Studenten. Das habe ihn geprägt. "Als Demokrat werde ich dann meine Stimme erheben, wenn ich den Rechtsstaat in Gefahr sehe - auch wenn es nicht der Rechtsstaat des eigenen Landes ist", rechtfertigt sich der Bundespräsident. So, wie er seine Bemerkungen über die Lage in der Türkei als Rat verstanden wissen möchte, so wolle sich auch Deutschland den Rat andere Länder anhören. Das betreffe unter anderem Kritik am Umgang mit dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), der zehn Menschen mit vor allem türkischen Wurzeln getötet hat.

Lob für Errungenschaften der Türkei: Gauck würdigt den rasanten Wirtschaftsaufschwung und demokratische Errungenschaften der Türkei, etwa die Tatsache, dass der Einfluss des Militärs zurückgedrängt wurde, ein Dialog mit den Kurden geführt werde oder Erdoğan den Armeniern sein Mitgefühl für erlittene Verbrechen ausspreche. Außerdem hebt er das Engagement der Türkei an der syrischen Grenze hervor.

EU-Mitgliedschaft: "Wir wissen nicht, ob und wann das sein wird", sagt Gauck, als er vormittags auf eine mögliche türkische EU-Mitgliedschaft angesprochen wird. Die europäische Demokratie sei aber das beste Modell für die Zukunft der Türkei. Dazu gebe es keine Alternative, sagt Gauck. Präsident Gül meint, auf Demokratiedefizite in der Türkei angesprochen: "Kein Land ist vollkommen". Die Türkei habe in den vergangenen zehn Jahren enorme Fortschritte gemacht.

Gerangel am Rande der Veranstaltung: Gegner der türkischen Regierung und Sicherheitskräfte haben sich am Rande der Veranstaltung mit Gauck ein Gerangel geliefert. Etwa ein Dutzend Aktivisten wurde daran gehindert, in das Gebäude der Technischen Universität in der Hauptstadt einzudringen, berichteten Augenzeugen. Studenten beklagten, dass nur ausgesuchte Zuhörer zu der Rede Gaucks eingeladen wurden. Der Beginn der Ansprache des Staatsoberhaupts vor Studenten verzögerte sich um fast eine Stunde. Ob ein Zusammenhang mit dem Gerangel bestand, blieb unklar. Die Hochschule gehört zu den Hochburgen der Gegner der islamisch-konservativen Regierung.

Angespannte Lage in der Türkei: Regierungschef Erdoğan steht seit fast einem Jahr international in der Kritik. Die landesweiten Gezi-Proteste, die vor rund elf Monaten begannen, ließ er mit massiver Polizeigewalt niederschlagen. Auf Korruptionsermittlungen reagierte er mit der Versetzung zahlreicher Polizisten und Staatsanwälte. Mit der AKP-Mehrheit im Parlament wurden Gesetze zur schärferen Kontrolle des Internets und zur Ausweitung der Befugnisse des Geheimdienstes MIT verabschiedet. Vor der Kommunalwahl im März ließ Erdogan den Online-Kurznachrichtendienst Twitter sperren.

Gaucks Programm in der Türkei: Am Morgen hatte Bundespräsident Gauck in Ankara zunächst am Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk einen Kranz niedergelegt. Danach war er von Präsident Gül mit militärischen Ehren begrüßt worden. Nach einer Pressekonferenz traf er Ministerpräsident Erdoğan zu einem Mittagessen. Am Nachmittag sprach Gauck vor Studenten der Middle East Technical University in Ankara. Abends ist ein Staatsbankett geplant.

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