Süddeutsche Zeitung

Bundespräsident besucht Flüchtlingsheim:"Bitte folgt nicht Euren Ängsten"

Lesezeit: 2 min

Von Hannah Beitzer, Berlin

Gauck begrüßt Mitarbeiter per Handschlag

Die Frau mit dem Baby kommt, als der Rundgang schon fast vorbei ist. Sie reckt es dem Bundespräsidenten entgegen, er legt andeutungsweise den Arm um ihre Schulter: "Alles Gute für sie", sagt Joachim Gauck. Er besucht heute, wenige Tage nach den Ausschreitungen von Heidenau, nach Bränden in weiteren Flüchtlingsheimen, eine Unterkunft in Berlin.

Im ehemaligen Wilmersdorfer Rathaus leben seit etwa zwei Wochen 563 Menschen. Der Arbeiter-Samariter-Bund betreibt die Einrichtung mit 15 ehrenamtlichen Mitarbeitern und wird von 40 freiwilligen Helfern des Bündnisses "Willkommen in Wilmersdorf" unterstützt. Gauck begrüßt sie per Handschlag, fragt nach ihrer Arbeit. Dann wartet eine lange Reihe Flüchtlinge auf ihn, sie drängen sich um den Bundespräsidenten, dass dieser in der Menge fast nicht mehr zu sehen ist.

Warnung vor "Dunkeldeutschland"

Hinterher sagt er über die vielen Freiwilligen, die täglich in Deutschland ihr Bestes geben, die ihren Urlaub unterbrechen, um Menschen in Not zu helfen: "Es gibt ein Deutschland, das sich hier leuchtend darstellt im Gegensatz zum Dunkeldeutschland." "Dunkeldeutschland", das ist natürlich Heidenau, das sind laut Gauck "Hetzer und Brandstifter". Das sind jene, die vor den Unterkünften Schilder mit "Nein zum Heim" hochhalten.

Für sie dürfe kein Politiker Verständnis zeigen, sagt Gauck. Dennoch sei es Aufgabe der Politik, "Ängste aus der Mitte der Gesellschaft" aufzuspüren - und wenn auch nur, um den Menschen zu sagen: "Bitte folgt nicht Euren Ängsten!" Denn auch, wenn die Behörden vielerorts überfordert seien mit dem Ansturm von Menschen, ist der Bundespräsident überzeugt: "Deutschland ist in der Lage, diese Herausforderungen zu meistern."

Das Wichtigste sei, dass man mit den Menschen spreche

Wie sieht das in der Realität aus? Im Rathaus Wilmersdorf hängen Schilder in unterschiedlichen Sprachen an den Wänden, die den Weg zur medizinischen Versorgung weisen, den Weg zur Essensausgabe, den Weg zum Sprachkurs. Auf einem steht beruhigend: "Don't worry about your passports. They will be brought here." Und: Man wisse zwar nicht genau wann, aber "social service will come here". Für Gauck ist das Wichtigste, dass man mit den Menschen spreche und ihnen sage, was auf sie zukomme - auch, wenn das bedeutet: Sie müssen erst einmal warten.

Der Bundespräsident betont auch, dass Deutschland eine ähnliche Herausforderung nach dem Zweiten Weltkrieg gemeistert habe, als es "bettelarm und zerstört" war. Gauck hatte bereits im Juni die Deutschen aufgefordert, nach den Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung im Zweiten Weltkrieg großherziger gegenüber Flüchtlingen zu sein. Auf einer Konferenz im Juli nannte er die Taten Rechtsextremer "widerwärtig" und "unerträglich". Schon vor Jahren besuchte er das erste Mal ein Flüchtlingsheim, trifft sich regelmäßig mit Initiativen und Geflüchteten.

Derartiger Klartext ist nach Meinung vieler jetzt wieder nötig, nach den Anschlägen auf das Flüchtlingsheim in Heidenau. Gerade der Kanzlerin warfen viele vor, sich in der Debatte nicht eindeutig genug gegen rechte Gewalt zu positionieren. Bis sie diese schließlich am Montag "abstoßend" nannte und "in keiner Weise akzeptabel". Heute besucht sie Heidenau, es ist ihr erster Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft. Zu spät, meinen viele. Besser spät als nie, andere.

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