Flüchtlinge in Deutschland:Krisenzeichen nehmen zu

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Flüchtlinge in einer Notunterkunft in einer ehemaligen Bundeswehr-Sporthalle in Stern Buchholz, Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern). (Foto: dpa)
  • In München gibt es kaum noch freie Notunterkünfte für Flüchtlinge, die Weiterleitung in andere Teile Deutschlands zieht sich hin.
  • Auch Nordrhein-Westfalen, das von allen Bundesländern bisher die meisten Asylbewerber aufnahm, stößt an seine Grenzen.

Von SZ-Autoren

Es geht immer erst am späten Nachmittag los. Am Montag ist es so, am Sonntag war es so, als die Menschen erschöpft im Hauptbahnhof eintrafen. In München kamen am Montag bis zum späten Abend bereits 4400 Flüchtlinge an. Bisher hat noch alles geklappt. Aber die Lage wird kritisch. Am Sonntagabend musste die Feuerwehr von außen frische Luft in einen Seitenflügel des Bahnhofs blasen, wo 900 Flüchtlinge warteten, bis es für sie weiterging. In München selbst gibt es kaum mehr freie Notunterkünfte, und die Weiterleitung der Asylsuchenden in andere Teile Bayerns und der Bundesrepublik zieht sich eben hin.

Zehntausende Zufluchtsuchende auf einmal - da gerät selbst die ausgeklügelte Münchner Logistik an ihre Grenzen; die Verantwortlichen rufen um Hilfe. "München hat hier eine nationale Aufgabe zu lösen, das geht nicht mehr lange ohne Hilfe, gerade vom Bund", sagt Christoph Hillenbrand, Regierungspräsident von Oberbayern. Hillenbrand hofft auf eine Entlastung; Züge mit Flüchtlingen aus Ungarn und Österreich dürften nicht mehr länger nur in den Süden Deutschlands fahren, sondern müssten direkt an die geplanten Drehkreuze umgeleitet werden, nach Leipzig in Sachsen etwa. Doch auch in den anderen Bundesländern ist die Lage längst mehr als angespannt.

Ralf Jäger (SPD), der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, etwa betont die Schlüsselrolle, die sein Land bei der Flüchtlingsunterbringung spielt. "Ohne Nordrhein-Westfalen würde das Aufnahmesystem schnell an die Grenzen kommen." NRW nimmt von allen Ländern die meisten Asylbewerber auf. 3300 sind am Wochenende allein aus München in Dortmund und Düsseldorf angekommen. Den Bayern helfe er da gerne, sagt Jäger. Er selbst war zum Dortmunder Bahnhof gefahren, um die Flüchtlinge zu begrüßen. Mit 14 000 Flüchtlingen allein in dieser Woche rechnet er, davon 6500 in Sonderzügen aus Ungarn. "Wir arbeiten im Krisenmodus."

Nordrhein-Westfalens Innenminister bittet muslimische Gemeinden um Hilfe

Die 600 Millionen Euro, die vom Bund zugesagt seien, reichten hinten und vorne nicht. Viel zu wenig, sagt Jäger. Er hat die Kommunen angewiesen, Krisenstäbe einzurichten. In der Bezirksregierung Arnsberg, die die Unterbringung koordiniert, wird rund um die Uhr gearbeitet, im Schichtbetrieb. Das Wichtigste sei, dass jeder ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit habe. "Mehr können wir zurzeit nicht leisten." Auch die muslimischen Gemeinden will Jäger einbinden: "Wenn eine Moscheegemeinde Unterbringungsmöglichkeiten hat, umso besser."

Raumnot allerorten. Niedersachsens Ministerpräsident Stefan Weil (SPD) sagt zwar am Montag, wie stolz er sei nach dem herzlichen Empfang der Flüchtlinge am Wochenende, "Bürger dieses Landes zu sein". Aber er sagt auch, die "akute Krise" werde Deutschland überfordern, wenn es so weitergehe. "Die Situation spitzt sich dramatisch zu", warnt das niedersächsische Innenministerium. "Wir brauchen Notunterkünfte, die wir befristet öffnen." Allein am Wochenende seien mehr als 1000 Flüchtlinge in Niedersachsen angekommen. In Schwanewede im Landkreis Osterholz wurde eine weitere Notunterkunft in einer ehemaligen Kaserne eröffnet.

Freundliche Gesten überall: Ein Mädchen wird am Montag nach seiner Ankunft im Münchner Hauptbahnhof begrüßt. (Foto: Michaela Rehle/Reuters)

In Hessen, Rheinland-Pfalz und im Saarland stellen Helfer überall Zelte auf. Feste Unterkünfte sind rar geworden, werden nun mit Beginn des Herbstes aber dringend gebraucht. Die Stadt Frankfurt will nach der Buchmesse Mitte Oktober Schutzsuchende in den Messehallen unterbringen. In Rheinland-Pfalz verspricht die Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), jeder werde im Winter ein festes Dach über dem Kopf haben.

Ein Versprechen, das auch Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) Anfang August gemacht hatte: Bis zum ersten Frost, sagte Ulbig damals, wolle man allen Geflüchteten im Freistaat ein festes Dach über dem Kopf organisiert haben. An diesem Montag nun musste Ulbig das Versprechen relativieren. Nach einem Besuch der Offiziersschule des Heeres, wo am Wochenende spontan eine Unterkunft hergerichtet worden war, bestätigte der Minister, dass nahe dem Dresdner Hauptbahnhof ein Zelt für 200 Menschen errichtet werde. Vermutlich kommen im Laufe der Woche ein zweites und drittes Zelt hinzu. Sachsen will 700 weitere Flüchtlinge aufnehmen, am Wochenende waren bereits 269 Menschen über Saalfeld nach Dresden gekommen. Das Ziel, bis Ende Oktober niemanden mehr in Zelten unterbringen zu müssen, bleibe zwar bestehen. "Aber wir kommen teilweise an unsere Grenzen", sagte Ulbig.

Auch im Nachbarland Brandenburg sind die zentralen Erstaufnahmelager überfüllt. Eines befindet sich in Eisenhüttenstadt, einem Ort, der nach dem Zusammenbruch der DDR massiv an Einwohnern verloren hat. Vor einem Vierteljahrhundert waren es mehr als 50 000, nun leben noch 28 000 Menschen dort. Die Unterkunft für Flüchtlinge liegt am Stadtrand in einer früheren Polizeikaserne. Als an diesem Morgen ein Sonderzug mit rund 900 Flüchtlingen kommt, gibt es kaum jemanden, der wartet, um sie willkommen zu heißen. Ein paar ehrenamtliche Helfer immerhin verteilen Getränke. Der Bahnhof ist weiträumig abgesperrt. 310 der Neuankömmlinge sollen später weiter nach Berlin.

Dort, in der Hauptstadt, war in letzter Zeit oft eine große Diskrepanz zu spüren. Während unzählige Bürger helfen und in Eigeninitiative die Betreuung von Flüchtlingen organisieren, bekam die Sozialverwaltung die Situation lange nicht in den Griff. Vor dem "LaGeSo", dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, warteten Flüchtlinge tagelang, um überhaupt registriert zu werden. Es fehlte an Personal. Inzwischen soll sich die Lage etwas gebessert haben. Für die jetzt ankommenden Flüchtlinge eröffnet das LaGeSo immerhin ein mobiles Büro. Berlin prüft, ob die Neuankömmlinge im früheren Internationalen Congress Centrum ICC untergebracht werden können. Das geht in den großen Städten. In Hamburg, wo am Sonntag weitere tausend Menschen eintrafen, haben sie inzwischen Teile der Messehalle als Quartier freigeräumt; die anderen Notunterkünfte sind bereits überfüllt.

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Noch geht alles. Doch die Krisenzeichen nehmen zu. Und das meint nicht die Brandstiftungen in Asylbewerberheimen oder in Gebäuden, die als Flüchtlingsunterkünfte vorgesehen sind. Und auch nicht die Demonstrationen der Rechten: Als die ersten Züge Samstagnacht ankamen, ging in Dortmund bereits die Neonazi-Szene am Bahnhof auf die Straße, und Unbekannte versuchten, eine Flüchtlingsunterkunft in der Stadt in Brand zu stecken.

Vernehmbares Echo hatte vielmehr Magdeburgs Oberbürgermeister Lutz Trümper bereits am Wochenende ausgelöst. Ein Fernsehreporter fragte Trümper, ob angesichts der vielen Zugänge ein Kollaps des Asylsystems denkbar sei. "Ich glaube, der ist schon ganz nah dran", sagte der Kommunalpolitiker von der SPD. Kritisiert wurde er dafür unter anderem von Wulf Gallert, dem Landeschef der Linkspartei. Die Aufgaben, die vor Sachsen-Anhalt stünden, seien zu bewältigen, sagte dieser.

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Aber Grummeln ist überall vernehmbar. In Baden-Württemberg haben die Berufsschullehrer des Landes an diesem Montag ein Vetorecht gefordert, wenn es um die Belegung von Turnhallen mit Flüchtlingen geht. Eine Kürzung der Sportstunden sei akzeptabel, aber zumindest müssten noch Noten vergeben werden können, sagte der Verbandssprecher in Stuttgart und warnte eine Woche vor Schulbeginn: "Vorsicht, dass die Stimmung nicht kippt!"

100 000 Flüchtlinge muss Baden-Württemberg in diesem Jahr aufnehmen - mit einer derart gewaltigen Zahl hatte niemand kalkuliert, auch der großzügige Ausbau der Landeserstaufnahmestellen seit vergangenem Sommer hat sich als höchst unzureichend erwiesen. Nun peilt die grün-rote Regierung eine weitere Verdoppelung an, von 10 000 auf 20 000 Plätze. Doch das geht nicht von heute auf morgen.

In Orten wie Meßstetten, Ellwangen oder Heidelberg, wo große Flüchtlingsquartiere massiv überbelegt sind, regt sich schon länger immer wieder einiger Unmut. Die Opposition im Land versucht, diesen Unmut gegen die grün-rote Regierung zu wenden. Sie habe das Problem unterschätzt und betreibe schlechtes Management. Jenseits von humanitären Aspekten ist es ein halbes Jahr vor der Landtagswahl auch ein strategischer Segen für den grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, dass Angela Merkel die Flüchtlingsfrage zur Chefsache gemacht hat. Und damit für alle sichtbar auch zur Sache der CDU.

Aber selbst beim besten Willen und unter Aufgebot aller Kräfte läuft manches schief: Mal verzögern sich die Bettenlieferungen, mal die Bauarbeiten an Unterkünften. Und die Personalreserven reichen bei Weitem nicht: Im Saarland mobilisierte Innenminister Klaus Bouillon (CDU) inzwischen den Katastrophenschutz seines Landes zur Flüchtlingsunterbringung. Und sucht verzweifelt nach medizinischem Personal, damit Ankömmlinge zumindest einigermaßen versorgt werden können. Seine Augen, und die anderer Landespolitiker, richten sich da auf die Bundeswehr. Bouillon hätte gern ein paar Mediziner ausgeliehen. Er ist mit seinen Begehrlichkeiten nicht allein: Hessen wünscht sich Armee-Material wie etwa Schlafsäcke, um jedem Flüchtling wenigstens eine Bettstatt zu geben.

© SZ vom 08.09.2015/jab/pb/höl/jok/cop/jsc/mest/ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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