Angela Merkel steht am Checkpoint Odzisi, irgendwo im Kaukasus. Vor ihr haben Mitarbeiter der Europäischen Beobachtermission EUMM ein Fernglas auf ein Stativ geschraubt. Die Kanzlerin bückt sich und schaut nun von Georgien aus über die Verwaltungsgrenzlinie nach Süd-Ossetien, neben Abchasien eine von zwei abtrünnigen Republiken. Merkel sieht eine Kaserne russischer Grenzsoldaten. Das ist Anschauungsmaterial, was aus einem Konflikt werden kann, in dem sich über Jahre so gut wie nichts bewegt.
Zwei Tage verbringt Merkel in Georgien. Die Kanzlerin zieht in Tiflis immer wieder eine Parallele: In der Pressekonferenz mit dem georgischen Ministerpräsidenten Mamuka Bachtadse, als sie die Konflikte an der russischen Peripherie anspricht und sagt, sie hingen "alle ein bisschen zusammen". Oder vor georgischen Studenten, als sie befindet, Moskau mache es den früheren Sowjetrepubliken "nicht einfach". Durch einen Versprecher wird dann am deutlichsten, woran die Kanzlerin hier offenbar immer wieder denken muss: Statt "georgische Grenze" sagt sie einmal versehentlich "ukrainische Grenze".
Georgien:Land in der Warteschleife
Zehn Jahre nach dem Fünf-Tage-Krieg finden Georgien und Russland nur schwer zueinander. Der Kaukasus-Staat will in die Nato, Moskau warnt, der Westen zögert. Über einen eingefrorenen Konflikt.
Was Merkel am Checkpoint durch das Fernglas sieht, ist das, was so ähnlich auch im Donbass drohen könnte. Was die Kanzlerin in Georgien erlebt, muss sie auch für die Ukraine befürchten: Ein Land mit europäischer Orientierung, das nicht nur, aber auch durch russische Einmischung aufgehalten wird. "Vor zehn Jahren begann das", sagt Merkel mit Blick auf den georgisch-russischen Krieg im August 2008. Danach entstand ein Sechs-Punkte-Plan, der eigentlich auch den Abzug russischer Truppen vorsieht.
"Heute", so Merkel, "sind wir keinen Schritt weiter." Der Kaukasus hat einige festgefahrene Konflikte zu bieten. Abchasien, Süd-Ossetien, aber auch der Streit um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan, den beiden nächsten Stationen auf Merkels Reise. Und überall ist Russland involviert oder unternimmt zumindest nicht genug, um einen Konflikt zu lösen. In Berlin ist man überzeugt, dass Präsident Wladimir Putin sich so nicht nur russischen Einfluss sichern, sondern auch vermeiden will, dass es anderen, vielleicht auch demokratischer organisierten früheren Sowjetrepubliken am Südrand besser geht als Russland.
Der größte Trost, den Merkel in Georgien neben mehr Wirtschaftskontakten und Studentenaustausch anzubieten hat, sind deutliche Worte: Russland habe Georgien "eine freie Entwicklung sehr schwer gemacht", sagt die Kanzlerin. Und mit Blick auf Süd-Ossetien und Abchasien fügt sie hinzu: "Ich habe keine Sorge da zu sagen, dass das eine Besatzung ist." In der Universität von Tiflis bekommt die Kanzlerin dafür lang anhaltenden Applaus.
Sie spricht auch die Konsequenzen mittlerweile deutlicher an als früher: Ein schneller Nato-Beitritt Georgiens zum Beispiel sei "nichts, was Deutschland jetzt vertritt". Und was eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union betrifft, dürfe man "nicht zu viel zu schnell versprechen". Trotzdem überschüttet die georgische Regierung Merkel mit Gastfreundschaft. Zum üppigen Bankett treten eine Chanson-Sängerin und Tanzgruppen auf. Außerdem präsentiert der Ministerpräsident überraschend ein Stillleben mit Hase, das Bild eines italienischen Malers aus dem 17. Jahrhundert - es ist Beutekunst aus Dresden, die er der Kanzlerin 73 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für den Rücktransport übergibt.
Merkel besucht das Denkmal für den türkischen Genozid an den Armeniern
Eine halbe Flugstunde später erlebt Merkel in Armenien eine andere Seite des russischen Einflusses. Vor ein paar Monaten gab es in der Hauptstadt Eriwan Demonstrationen, an deren Ende ein neuer Ministerpräsident ins Amt kam. Es war ein Sieg der Demokratie, aber die erste Reise von Nikol Paschinjan führte gleichwohl nach Moskau. Armenien ist ohne Energielieferungen aus Russland praktisch nicht überlebensfähig. Im Osten liegt Aserbaidschan, mit dem man sich um die Enklave Berg-Karabach seit Jahrzehnten bekriegt. Im Westen liegt die Türkei, zu der das Verhältnis wegen des Völkermords im Ersten Weltkrieg belastet ist.
Merkel beginnt ihren ersten Besuch in Eriwan am Denkmal für den Genozid. Als erste deutsche Politikerin pflanzt Merkel auch eine Tanne. In der Pressekonferenz spricht sie später von "Gräueltaten". Auf die Frage, ob sie dabei eines Völkermordes gedacht habe, hat sich Merkel eine raffinierte Antwort ausgedacht: Sie habe "im Geiste" der Bundestagsresolution von 2016 gedacht. Darin kommt das Wort Völkermord vor. Sie selbst aber nimmt den Begriff in Eriwan nicht in den Mund. Die Kanzlerin findet es offenkundig nach ihren deutlichen Worten gegenüber Wladimir Putin nicht nötig, sich kurz vor dem Besuch von Recep Tayyip Erdogan in Deutschland auch noch mit dem türkischen Präsidenten anzulegen.