Ansprache des Bundeskanzlers:"Angst darf uns nicht lähmen"

Olaf Scholz zeigt Verständnis für die Diskussionen über die Ukraine-Politik der Bundesregierung. Aber in der Verteidigung der Freiheit an der Seite des Angegriffenen liege "das Vermächtnis des 8. Mai".

Von Stefan Kornelius und Roland Preuß, Berlin, München

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat für seinen Kurs im Ukraine-Krieg geworben und die militärische Unterstützung für das Land als Vermächtnis des Zweiten Weltkriegs verteidigt. In einer Fernsehansprache zum 77. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8. Mai sagte er am Sonntagabend, aus der katastrophalen Geschichte Deutschlands zwischen 1933 und 1945 "haben wir eine zentrale Lehre gezogen". Es dürfe nie wieder Krieg, nie wieder Völkermord, nie wieder Gewaltherrschaft geben. "In der gegenwärtigen Lage kann dies nur bedeuten: Wir verteidigen Recht und Freiheit - an der Seite der Angegriffenen", sagte er.

Scholz warf Russlands Präsident Wladimir Putin vor, die Ukraine nicht nur unterwerfen, sondern auch ihre Kultur und Identität "vernichten" zu wollen. Wenn man die Ukraine nicht im Kampf gegen die Invasoren unterstütze, so hieße dies "zu kapitulieren vor blanker Gewalt - und den Aggressor zu bestärken". Deutschland müsse nun dazu beitragen, dass Freiheit und Sicherheit siegten, so wie sie vor 77 Jahren triumphiert hätten über Unfreiheit, Gewalt und Diktatur. "Darin liegt das Vermächtnis des 8. Mai", sagte Scholz. Am 8. Mai 1945 hatte die deutsche Wehrmacht kapituliert, damit war der Zweite Weltkrieg in Europa beendet.

Der Kanzler zeigte Verständnis dafür, dass die politisch weitreichenden Entscheidungen nach dem russischen Angriff wie die Lieferung von Waffen an die Ukraine und "nie dagewesene Sanktionen" gegen Russlands Wirtschaft und russische Führungskräfte zu intensiven Diskussionen führten. Dies sei "gut und legitim". Aus vielen Äußerungen spreche die ernste Sorge, dass sich der Krieg bis nach Deutschland ausweite. Aber: "Angst darf uns nicht lähmen", sagte Scholz.

Der Kanzler nannte vier Grundsätze, die sich aus seiner Sicht für die Politik ergeben: Es dürfe keine deutschen Alleingänge geben. Die Fähigkeit, das eigene Land zu verteidigen, müsse erhalten bleiben. Die Regierung unternehme "nichts, was uns und unseren Partnern mehr schadet als Russland". Und man werde keine Entscheidung treffen, welche die Nato zur Kriegspartei werden lasse. "Dabei bleibt es", sagte Scholz. Einen "russischen Diktatfrieden" werde man nicht akzeptieren.

Das russische Militär verstärkte indes am Wochenende seine Angriffe auf ukrainische Ziele. Bei einem Bombenangriff auf eine Schule in der ostukrainischen Region Luhansk sind nach Angaben des Gouverneurs der Region womöglich bis zu 60 Menschen getötet worden. Nach der Attacke auf die Schule in dem Ort Bilohoriwka, in der 90 Menschen Schutz gesucht hätten, sei ein Feuer ausgebrochen, erklärte Gouverneur Serhij Gajdaj auf dem Messengerdienst Telegram. 30 Menschen seien aus dem zerstörten Komplex gerettet worden. "Sechzig Menschen sind wahrscheinlich unter den Trümmern der Gebäude gestorben", schrieb Gajdaj. Dem Verteidigungsministerium in Moskau zufolge zerstörten russische Soldaten in der Nacht zu Sonntag ein ukrainisches Kriegsschiff nahe Odessa. Zudem habe die Luftabwehr über der Schlangeninsel im Schwarzen Meer zwei ukrainische Bomber und einen Hubschrauber abgeschossen. Eine unabhängige Überprüfung der Angaben war nicht möglich.

Nach übereinstimmenden Angaben aus Kiew und Moskau wurden am Samstag die letzten Frauen und Kinder sowie ältere Zivilisten vom Werksgelände des belagerten Stahlwerks Asowstahl in der Hafenstadt Mariupol in Sicherheit gebracht. Sie waren zuvor wochenlang eingeschlossen gewesen. Die letzten ukrainischen Kämpfer dort wollten allerdings nicht aufgeben, wie ein Kämpfer des Asow-Regiments bei einer Online-Pressekonferenz sagte.

Jill Biden besucht Ukraine

Die Führungsfiguren der Gruppe der wichtigsten Industrienationen (G 7) schalteten sich am Sonntag zu einem symbolischen Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij zusammen. Dabei verkündete US-Präsident Joe Biden ein neues Sanktionspaket, das unter anderem 35 Manager der Gazprom-Bank und der Sperbank trifft. Beide Häuser waren bisher nicht vom Sanktionspaket getroffen, weil sie für die Abwicklung der Energiezahlungen wichtig waren. Die USA kündigten außerdem weitere Exportrestriktionen und Sanktionen gegen russische Propagandamedien an. Die Frau des US-Präsidenten, Jill Biden, besuchte überraschend und streng abgeschirmt die Ukraine für wenige Stunden. Sie traf in Uschhorod an der slowakischen Grenze mit der Ehefrau des ukrainischen Präsidenten zusammen.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas kam am Sonntag in die Hauptstadt Kiew, um dort am Gedenken an den 8. Mai 1945 teilzunehmen. Die SPD-Politikerin traf unter anderem den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verurteilte bei einer Rede auf dem DGB-Bundeskongress den "brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg" des russischen Staatschefs Wladimir Putin auf das Land erneut scharf. Dieser habe einen "Epochenbruch" ausgelöst, sagte er in Berlin.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusUkraine
:Das Schweigen der Kanzlerin a. D.

Frank-Walter Steinmeier gab Fehler zu, Gerhard Schröder tat es explizit nicht - von den früheren Entscheidern der deutschen Russlandpolitik hat sich nur Angela Merkel kaum geäußert. Wird es dabei bleiben?

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: