Der jüngste Jahresbericht des Nationalen Normenkontrollrats schlägt vor, künftig auf die Vorlage einer Karteikartenabschrift zu verzichten, wenn jemand seinen rosafarbenen oder grauen Papierführerschein gegen die neue EU-Plastikkarte eintauschen will. Bisher muss man nämlich einen Auszug aus dem „Fahrerlaubnisregister “ vorlegen, wenn der alte Führerschein von einer anderen Behörde stammt. Warum das so ist? Vielleicht soll ja wirklich Betrügern das Handwerk gelegt werden, die mit gefälschten grauen Lappen an den EU-Führerschein gelangen wollen. Wahrscheinlicher ist, dass Behörde A und Behörde B ein Kommunikationsproblem haben. Da muss halt der Bürger einspringen.
Deutschland klagt über zu viel Bürokratie, es ist eine schichtenübergreifende Klage geworden, vom Wohngeldempfänger bis zum Industrievorstand herrscht Einvernehmen, dass der Dschungel der Antragsformulare gelichtet und die Trägheit der Genehmigungsverfahren beseitigt werden muss. Der Hürdenlauf beginnt buchstäblich mit der Geburt, Dokumentation im Krankenhaus, Namenswahl im Standesamt, Kindergeldantrag bei der Familienkasse, und für den Elterngeldantrag ist natürlich eine Geburtsurkunde einzureichen, wie der Registerauszug beim Führerschein. Die Geburt eines Betriebs verläuft nicht weniger kompliziert, ein ums andere Mal müssen Existenzgründer dieselben Informationen an verschiedene Behörden liefern, so will es das Gewerbe-, das Abgaben-, das Sozialrecht.
Das ist der Hintergrundsound, vor dem FDP-Chef Christian Lindner kürzlich das Lied angestimmt hat, Deutschland solle „ein klein bisschen mehr Milei oder Musk wagen“. Das sollte tatkräftig klingen, der argentinische Präsident und der schillernde Trump-Berater setzen auf Werkzeuge wie Abrissbirnen oder Kettensägen. Klar, schon ein wenig schwierig, die beiden, sagte Lindner. „Aber was mich beeindruckt, ist die Kraft zur Disruption.“
Ob Lindners disruptive Gedanken Deutschland wirklich nach vorn brächten, lässt sich mangels weiterer Details kaum ermessen. Javier Mileis Kurs jedenfalls liefert schon deshalb keine Blaupause für Deutschland, weil er andere Probleme zu lösen hatte, eine Hyperinflation und ein gigantisches Staatsdefizit. Die Antwort des argentinischen Marktradikalen lautete: Entlassung von 30 000 Staatsbediensteten, Stopp öffentlicher Bauprojekte, Einschnitte bei Bildung, Gesundheit, Wissenschaft, Renten. Nach einem Deutschlandplan klingt das nur für den, der die Republik gegen sich aufbringen will.
Misstrauen ist sozusagen das böse Gift der Bürokratie
Was Bürokratieabbau in Deutschland bedeutet, illustriert die Sache mit dem Führerschein ganz gut. Sich den Registerauszug zu besorgen, ist ein Miniproblem. Nur ist Bürokratie letztlich eine Ansammlung kleiner Hemmnisse, die – isoliert betrachtet – zu stemmen sind, aber in der Summe zur erdrückenden Last werden. „Das Problem für Handwerksbetriebe ist die schiere Masse“, so formuliert es Markus Peifer vom Zentralverband des Deutschen Handwerks. Was er meint, sind die berüchtigten Dokumentations- und Informationspflichten. Bäcker müssten die Einhaltung von Kühlketten minutiös dokumentieren, sie müssten für eine präzise Allergenkennzeichnung sorgen, sie müssten festhalten, welcher Mitarbeiter wann und wie welche Kundendaten verarbeitet habe. Alles wichtig, die Vorsorge gegen Bakterien, der Schutz für Allergiker, die Datensicherheit. Aber für einen Betrieb mit fünf oder zehn Leuten eben viel Extraarbeit.
Peifer bringt im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung zwei Begriffe ins Spiel, die zentral sind für die Debatte: Misstrauen und Verantwortung. Misstrauen ist sozusagen das böse Gift der Bürokratie. Es ist der Treiber all dieser Dokumentationspflichten, die Kontrolle versprechen, aber Gängelung produzieren und den Menschen signalisieren, dass der Staat ihnen nicht traut. Und Verantwortung, das wäre der Weg aus der Bürokratie-Misere. Beispiel Kühlketten: Klar sei es wichtig, dass keine Bakterien auf Lebensmittel gelangten. „Aber wenn einmal etwas verdorben ist, dann kommt die Lebensmittelkontrolle und schließt den Laden“, sagt Peifer. Verantwortung, heißt das, kann am Ende schmerzhaft sein, nötigt aber gerade deshalb zur rechtzeitigen Vorsicht.
Womit man bei Robert Habeck angelangt wäre. Der grüne Bundeswirtschaftsminister hat Anfang Oktober mit Blick auf das leibhaftige Bürokratiemonster Lieferkettengesetz empfohlen, „die Kettensäge anzuwerfen und das ganze Ding wegzubolzen“. Das Wort Kettensäge dürfte er bereut haben, mit Milei hat er wirklich nichts am Hut. Aber was er in der Sache meint, hat er am Donnerstagabend im ZDF bei „Maybrit Illner“ erläutert. Natürlich bleibe es richtig, penibel darauf zu achten, dass Kinderarbeit und Umweltverschmutzung nicht Bestandteil unserer Produkte seien. Allerdings könne man auf die bürokratischen Berichtspflichten des Lieferkettengesetzes verzichten, wenn man auf das Prinzip Verantwortung setze. „Dann musst du, wenn du erwischt wirst, die Konsequenzen tragen. Das ist der richtige Weg. Wenn wir Bürokratie – also lauter Paragrafen, die das Leben anstrengend machen – loswerden wollen, dann geht es nur wirklich fundamental über persönliche Verantwortungsübernahme.“
Vollzieht sich da gerade ein Paradigmenwechsel? Markus Peifer ist skeptisch. Das Bürokratieentlastungsgesetz IV, vom ehemaligen FDP-Justizminister Marco Buschmann auf den letzten Metern der Koalition ins Gesetzblatt gebracht, illustriere doch eher, dass der Mut zum konsequenten Abbau fehle.
Einer, der optimistischer klingt, ist Garrelt Duin, Mitglied im Nationalen Normenkontrollrat und Direktor des Regionalverbands Ruhr. „Bürokratieabbau könnte ein Gewinnerthema werden“, sagt er der SZ. Inzwischen werde es von SPD und Grünen vorangetrieben, die in früheren Zeiten eher ablehnend gewesen seien. Die einen vermuteten dahinter das Schleifen des Kündigungsschutzes, die anderen den Abbau des Umweltschutzes. Nun aber mache sich die Erkenntnis breit, dass alle profitierten, wenn der Staat funktionsfähig bleibe.
Gibt es in Behörden ein übertriebenes Sicherheitsdenken?
Der Staat soll funktionsfähig bleiben – wie geht das? Garrelt Duin erzählt, im Regionalverband haben sie kürzlich Bilder geschenkt bekommen, ohne Rahmen. Um welche zu beschaffen, müsse die Behörde ein Vergabeverfahren anstrengen. Denn es gilt das unerbittliche Vergaberecht, auch so eine gute Absicht mit irrwitzigen Konsequenzen. Es soll Korruption verhindern und Behörden zu Wirtschaftlichkeit zwingen. Aber inzwischen, erzählt Duin, verzichteten manche Handwerker darauf, sich um öffentliche Aufträge zu bewerben, weil ihnen das schlicht zu kompliziert sei. Auch für die Behörden sei dies ein beträchtlicher Aufwand, weil jede Gehwegreparatur unters Vergaberecht falle. Habecks Ministerium stand kurz davor, das Vergabewesen zu vereinfachen – bis der Koalition die FDP abhandenkam.
Duins zweites Beispiel betrifft den deutschen Föderalismus, ein urdeutscher Komplikationsfaktor eigener Art. Das Bauen ist in den Landesbauordnungen geregelt, „aber niemand kann wirklich erklären, warum das Bauen in NRW anders sein muss als in Hessen oder Niedersachsen“. Zum Beispiel der Brandschutz, die Beschaffenheit der Wände, die Verfügbarkeit von Rettungswegen, die Lüftungsanlagen – alles bis ins Detail geregelt. Aber wer den kurzen Fußweg vom baden-württembergischen Ulm ins bayerische Neu-Ulm zurücklegt, findet dort andere Regeln vor.
Mehr Verantwortung zu wagen statt mehr Milei: Das könnte im Übrigen auch ein Leitspruch für die Verwaltungsbeamten selbst sein. Der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle hat im Frühjahr in einem FAZ-Aufsatz mit dem Verwaltungsprofessor Jörg Bogumil darauf hingewiesen, in den Behörden dominiere häufig ein „übertriebenes Sicherheitsdenken“ – aus Angst vor Rechnungshöfen und Verwaltungsgerichten. Und dies, obwohl die rechtlichen Vorschriften der Verwaltung oft große Spielräume gewährten. Übervorsicht ziehe Genehmigungsverfahren unnötig in die Länge. Heißt: Das Land braucht nicht nur weniger Paragrafen. Sondern auch mutigere Beamte.