Nach dem beeindruckenden Erfolg der Bürgerbeteiligung in Irland, die 2018 zur Aufhebung des Abtreibungsverbots führte, hat es einige Zeit gebraucht, bis sich Bürgerräte auch in Deutschland etabliert haben. Anfangs standen sie dort unter dem Verdacht, nur ein Feigenblatt zu sein, das Bürgerbeteiligung lediglich simuliert. Schließlich haben Bürgerräte selbst keine Entscheidungsgewalt. Inzwischen werden sie bis ins Kanzleramt hinein als nützliches Instrument gesehen, das die repräsentative Demokratie sinnvoll ergänzen kann – sofern es richtig eingesetzt wird.
Eine, die an dieser Entwicklung nicht unmaßgeblich beteiligt war, ist Gisela Erler. Sie war von 2011 bis 2021 Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Winfried Kretschmanns grün geführter Landesregierung in Baden-Württemberg und hat in dieser Zeit mit verschiedenen Beteiligungsformen experimentiert. Besonders überzeugt haben sie dabei die Ergebnisse, die sich im Dialog Staat und Kommunen mit unbeteiligten Bürgern erzielen lassen.
Bürgerräte setzen sich aus Bürgern zusammen, die nach bestimmten Kriterien zufällig ausgelost werden, um möglichst alle Bevölkerungsgruppen abzudecken, alle Altersgruppen und formale Bildungsniveaus. Die Gruppe soll je zur Hälfte aus Männern und Frauen bestehen. Wenn man so einem Bürgerrat Zugang zu Fachleuten gibt und ihn mit einer professionellen Moderation ausstattet, können Lösungsvorschläge entstehen, die lebensnäher oder auch mutiger sind als das, was Berufspolitiker ihren Wählern zumuten würden, argumentiert Erler. Sie schwärmt von einer besonderen Dynamik, die entsteht, wenn unbeteiligte Menschen als Vertretung des Gemeinwohls miteinander beraten.
Dynamik ohne Berufspolitiker
Unter dem Titel „Demokratie in stürmischen Zeiten: Für eine Politik des Gehörtwerdens“ wirbt Gisela Erler nun in Buchform für das Instrument Bürgerräte. Die Demokratie brauche einen Reformschub, findet sie. Bürger müssten politisch genauso viel Einfluss bekommen wie Lobbyverbände. Als wichtigste Voraussetzungen für eine gelungene Beteiligung nennt sie: Die Politik muss Bürgerräte möglichst früh einbinden und sich verpflichten, die Ergebnisse ernsthaft zu prüfen, und Ablehnungen öffentlich begründen.
Erlers Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für Bürgerräte, gleichzeitig hat sie darin aber auch ihre „politischen Erinnerungen“ festgehalten, die einen Einblick in die Denkschule der Grünen um Winfried Kretschmann geben. Diese Mischung dürfte für Leser, die sich vor allem vom Nutzen von Bürgerräten überzeugen lassen wollen, etwas enttäuschend sein. Auch wenn Erler in der Einleitung ausdrücklich warnt, dass sie kein Handbuch über gute Methoden der Bürgerbeteiligung vorlegt, hätten dem Buch mehr Beispiele aus der zehnjährigen Praxis im Land und in den Kommunen Baden-Württembergs gutgetan.