Süddeutsche Zeitung

Bürgerkrieg in Syrien:Sieben Syrer erzählen, wie sie im Krieg leben

Wenn der Tod vom Himmel fällt, beginnt die Arbeit der Freiwilligen von Aleppo. In den Trümmern suchen sie erst nach den Überlebenden.

Von Lea Frehse

Daraa

Die Revolution hing in Olivenzweigen. Ala'a Alghanem, 24, ruft sie sich gern in Erinnerung, hier, wo alles begann. Im staubigen Daraa malten Kinder 2011 zum ersten Mal in Syrien die Parolen des Arabischen Frühlings an Häuserwände. Hier gingen die ersten Demonstranten auf die Straße, fielen die ersten Schüsse. Auch Ala'a Alghanem stellte sich Panzern in den Weg. Die Menschen hielten ihnen Olivenzweige entgegen, Symbol des Friedens. Ihre Revolution sollte gewaltlos sein.

Heute sind weite Teile Daraas zerstört. Die oppositionelle Freie Syrische Armee und islamistische Milizen haben den Süden der Stadt eingenommen, Regierungstruppen halten den Norden. Dazwischen ist Gefechtszone. Etwa 600 000 Menschen leben weiter hier, zwei Drittel von ihnen in Notunterkünften oder bei Verwandten.

Jüngst sind die Regierungstruppen im Süden Daraas massiv unter Druck geraten; umso stärker bombardieren ihre Kampfjets nun die Oppositionsgebiete. Doch auch die Attacken der Opposition ließen zuletzt wieder Zehntausende fliehen.

Die Idee von einem Staat ohne Folter und Maulkorb, sagt Alghanem, lasse sie dennoch nicht mehr los. Sie unterrichtet heute an einer Schule in den Oppositionsgebieten. Wo das Regime zurückgedrängt wurde, sorgen landesweit Aktivisten dafür, dass Kinder die Schule besuchen können. "Viele Eltern behalten ihre Kinder wegen der Bomben zu Hause", erzählt Alghanem. Gegen den Beschuss sind sie machtlos, doch mit Bildung wollen sie der Gewalt etwas entgegensetzen.

Neun Schulen betreiben sie allein in Daraa. Der Name ihrer Initiative: Ghussun Zeitoun, Olivenzweig. Gelehrt wird dort nach dem Curriculum des alten Regimes. Das soll es den Kindern später ermöglichen, ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen. Aber der Lehrplan lässt auch Zeit für Spiele.

Nur über Politik, sagt Alghanem, reden sie nicht: Sie wollen die Kinder ablenken vom Krieg. Die junge Frau möchte Syrien trotz allem nicht verlassen. "Es ist mein Land", sagt sie. Wäre es auch noch ihr Land, wenn das Regime siegt? Ala'a Alghanem schweigt lange. Kürzlich hat sie einen Sohn zur Welt gebracht. Er soll in Freiheit aufwachsen.

Wenn der Tod vom Himmel fällt, hat Bebars Maschal nur noch Augen für das Leben. In den Trümmern suchen sie erst die Überlebenden, dann bleibt Zeit für die Toten und den Schutt. Maschal und die anderen Freiwilligen tragen weiße Helme statt Kalaschnikows.

Am Morgen haben sie neun Menschen aus dem Schutt gezogen, fünf von ihnen tot. "Alltag", sagt Maschal. Seit mehr als drei Jahren bombardiert Syriens Armee Oppositionsgebiete im Osten Aleppos. Meist werfen die Hubschrauber Fassbomben ab, alte Ölfässer gefüllt mit Metall und Sprengstoff, deren Splitter alles zerfetzen, Wände wie Gliedmaßen.

Seit 2012 haben die Bomben ohne Zielfunktion allein in Aleppo mehr als 11 000 Menschen getötet. Die Bomben des Regimes haben in diesem Krieg die meisten Opfer gefordert, die meisten Menschen in die Flucht getrieben. Kaum eine Stadt haben sie so zermalmt wie das stolze Aleppo.

Als Rebellen im Sommer 2012 zum Sturm ansetzten, sprachen ihre Anführer von der "Mutter aller Schlachten". Der Kampf um die Wirtschaftsmetropole sollte das Schicksal des Regimes besiegeln. Seither ist weder den Milizen noch der Armee der entscheidende Schlag gelungen. Stattdessen zermürben sie sich und die Stadt in einem Stellungskrieg.

Aleppos historische Innenstadt ist zu 60 Prozent zerstört. Strom und fließend Wasser gibt es nur noch über Generatoren. Lebensmittel sind begrenzt erhältlich, doch viele können sie sich nicht mehr leisten. Von der Million Menschen, die vor dem Krieg in Aleppos Osten lebten, blieben 40 000. Kommen die Flieger, kauern sie sich in Treppenhäuser, dann bleibt nur hoffen.

"Jeder weiß, dass es jeden jederzeit treffen kann", sagt Maschal. Der 30-Jährige installierte früher Klimaanlagen. Nun ist sein Gehalt gering: 150 Dollar aus Spenden im Monat. Das reiche bis zum Zehnten, danach borgt er von Verwandten. "Meine größte Sorge ist", sagt Maschal, "dass ich es nicht zurückzahlen können werde."

In Qamishli wehen nicht nur neue Fahnen, es weht auch ein ganz anderer Wind. "Uns geht es besser als dem Rest des Landes", sagt Abeer Hassaf. Die 40-Jährige betreibt ihre eigene Apotheke, ist Mutter zweier Kinder - und seit Kurzem aktive Politikerin. "Früher undenkbar", sagt sie.

Seit das Regime sich Ende 2013 aus dem Norden Syriens zurückgezogen hat, verwalten kurdische Kräfte die mehrheitlich von Kurden bewohnte Region de facto autonom. In Qamishli haben kurdische Milizen ihr Hauptquartier, Assads Armee hält lediglich Gebiete um den Flughafen. Regime und Kurden haben sich vorübergehend arrangiert - kraftsparend für beide Seiten.

Die Verwaltung ist zwar fest in der Hand der größten kurdischen Partei PYD. Doch die experimentiert zaghaft mit mehr Demokratie. Nach den Wahlen haben es mehrere neue Parteien in die Lokalräte geschafft. Abeer Hassaf ist nun Vorstandsmitglied der Liberalen Partei Kurdistans, 500 Mitglieder, sozialistische Grundhaltung. Bei den Frauenrechten sieht sie Fortschritte: "Frauen können leichter arbeiten, erben, sich scheiden lassen." Und doch verlässt sie das Haus ungern.

Seit die Kurden 50 Kilometer südlich von Qamishli den IS bekämpfen, haben sich hier wiederholt Attentäter in die Luft gesprengt. Der Einkauf ist ohnehin unerfreulich, seit die Preise ins Unermessliche gestiegen sind. Ein Kilogramm Fleisch kostet 2000 Syrische Pfund, etwa acht Euro. Ein Bäcker oder eine Verkäuferin verdienen höchstens 60 Euro im Monat. Die Wirtschaft sieht buchstäblich schwarz: Zwar liegen hier große Ölfelder, doch die Raffinerien stehen in Regimegebieten.

Kleinunternehmer haben deshalb improvisierte Öl-Destillen errichtet: In Tanks wird Rohöl erhitzt, bis sich Kerosin gewinnen lässt. Das ist so dreckig wie gefährlich: Wird das Öl zu heiß, explodieren die Tanks. Giftstoffe dringen in Lungen und Böden. Schon jetzt steigt die Krebsrate, berichtet Hassaf. Nach der Vorkriegszeit sehnt sie sich trotzdem nicht zurück. "Unter Assad waren wir Kurden Bürger vierter Klasse."

Eine Bekannte pflichtet ihr bei: "Früher lebten wir in Friedenszeiten. Doch wir kannten den Frieden nicht."

Es ist, als habe der IS dem Leben seine Farben genommen. Schwarze Flaggen, schwarze Gewänder - selbst die Luft ist dunkler. Der Rauch des Öls, sagt Mohamed Hassan.

Der 24-Jährige, der eigentlich anders heißt, schreibt unter falschem Namen für eine oppositionelle Zeitung aus dem vermeintlichen Kalifat. E-Mails sendet er verschlüsselt, nur engste Freunde wissen, was er wirklich tut. Die meisten sind ohnehin gegangen. Oder tot.

Sein letzter Bericht aus Deir ez-Zor: Schnell verbreiten sich immer neue Krankheiten. Tausend Menschen haben sich jüngst mit Tollwut und Leishmaniose infiziert, geschwächt von Mangel und Hitze. Seit der IS viele Kliniken geschlossen und Medikamenten-Importe verboten hat, fehlt es an medizinischer Versorgung. "Die Dschihadisten misstrauen der Medizin der Ungläubigen", sagt Hassan.

Das Staatswesen aber haben sie fest in der Hand. In der ehemaligen Provinzhauptstadt, berichtet Mohamed Hassan, haben Milizionäre sämtliche Behörden mit eigenen Leuten besetzt. Sie lassen Straßen bauen und treiben Steuern ein, eine Sittenpolizei kontrolliert die Einhaltung der neuen Vorschriften: "sittliche" Kleidung, kein Rauchen in der Öffentlichkeit, Einhaltung der Gebetszeiten.

Das Öl-Ministerium hilft mit Einnahmen aus Verkäufen an Zwischenhändler. Ins Stocken gekommen ist das Bildungswesen: "Alle Lehrer wurden suspendiert", berichtet Hassan. Wer wieder unterrichten wolle, müsse einen Kurs in gottgefälliger Lebensweise absolvieren.

"Viele sind vor Hunger und aus Angst vor den Dschihadisten geflohen", sagt der Journalist. Nach UN-Schätzungen haben drei Viertel der Bewohner die Provinz verlassen. Auf Arabisch nennen die meisten die Miliz nur bei ihrem Akronym "Daesh" - es klingt wie das arabische Wort für "niedertrampeln".

Manchmal durchsuchen Sittenwächter Wohnungen, erzählt Hassan. Auch an seine Tür haben sie geklopft, aber er konnte sich herausreden. Dutzende Journalisten wurden bereits hingerichtet. Hassan will trotzdem bleiben. "Ich liebe Deir ez-Zor in seiner ganzen Staubigkeit", schreibt er. Und schickt einen Smiley.

Ab und an trägt der Wind Gefechtslärm in die Damaszener Innenstadt, doch zu sehen sind die Kämpfe von hier aus nur im Fernsehen. "Bislang", sagt Jassir Nadim, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung haben möchte, "geht das Leben in Damaskus im Großen und Ganzen seinen gewohnten Gang."

"Ich stehe hinter meiner Regierung", sagt Nadim. Die Opposition - Dschihadisten wie Säkulare - nennt er "Terroristen". Nadim, um die 60, dunkle Stimme, ist ein Mann wohlüberlegter Worte. Bis vor einigen Jahren war er Parlamentsabgeordneter, nicht Mitglied, aber Sympathisant von Assads Baath-Partei.

Inzwischen ist er ganz Geschäftsmann. Die Lage der Wirtschaft hält er für äußerst angespannt: "Einerseits ist die Infrastruktur im ganzen Land schwer beschädigt. Andererseits lähmen die Sanktionen der EU und der USA den Handel", erklärt der Unternehmer, "am meisten aber macht uns der Wechselkurs zu schaffen."

Ein Dollar kostet heute etwa 220 Syrische Pfund, fast fünf Mal so viel wie Anfang 2011. Gleichzeitig sind die Löhne nicht gestiegen. Folge: Syrer können sich immer weniger leisten. In seiner Nachbarschaft in West-Damaskus, berichtet Nadim, seien Supermarktregale zwar voll, doch könnten auch wohlhabende Familien kaum noch genug Geld für den Einkauf aufbringen: "Die Mittelschicht schmilzt dahin."

Und dennoch: Es gebe eben auch Firmen, die derzeit so gut verdienten wie nie. Wer heute Generatoren verkaufe oder Mobilfunkpakete, könne große Geschäfte machen. In welchen Branchen Nadim selbst mit verschiedenen Unternehmen aktiv ist, möchte er nicht öffentlich machen.

Die besten Aussichten, so viel sei gesagt, sieht er mittelfristig im Baugewerbe. "Die Regierung schreibt bereits Wiederaufbauprogramme aus", erzählt er. In Homs arbeiteten die Bagger schon. "Einige der Entwürfe für Syriens Wohnviertel der Zukunft", sagt er, "sind äußerst ansprechend."

In Majed Abo Alis Erinnerung an Duma summt es, immerzu. Er kann die Fliegen nicht vergessen. Abo Ali, 39, verließ Duma vor einem Jahr, er ist in der Türkei. Seine Gedanken sind in Syrien, täglich spricht der Arzt mit früheren Kollegen. 24 blieben, 24 Ärzte und Pfleger für 160 000 Menschen, mitten im Krieg. Unter Ausgangssperre konnten sie die Toten nicht begraben, da begann das Summen.

Duma, das war einmal: 500 000 Einwohner, Fabriken, Gemüsefelder. Eine sunnitische Arbeitergegend in Ost-Ghouta, vor Damaskus. Schon 2012 verdrängte die Opposition hier die Armee. Die reagierte mit Belagerung: Seit 2013 ließen sie kaum noch Menschen und Waren durch, seit Juni 2014 sind die Grenzen dicht. Der Staat stellte Strom und Wasser ab. Weder Waffen noch Essen sollen in die Enklave - bis die Aufständischen aufgeben.

Dazu kommen die Bomben. Als 2013 Chemiewaffen des Regimes hier 1400 Menschen töteten, sprach die Welt über Ghouta. Es fallen weiter täglich Fass- und Streubomben. Drehen die Armeehubschrauber ab, herrscht Totenstille. Menschen sterben an Hunger.

Als den Kliniken die Medikamente ausgingen, wurde der Arzt Schmuggler. Seit der Belagerung gelangen Waren von Reis bis Granaten durch Tunnel in die Oppositionsgebiete. Eine Weile konnte Abo Ali so lebensnötige Medizin besorgen. Doch die Gänge entpuppten sich als tödliches Nadelöhr: An einem Ende wartet die Armee, am anderen tobt der Kampf ums Monopol.

Wer die Tunnel kontrolliert, hat Ost-Ghouta im Griff, verdient kräftig. Die Milizen der "Armee des Islam" und der "Union der Soldaten der Levante" liefern sich deshalb einen blutigen Kampf. Die Brutalität der islamistischen Kämpfer, so Anwohner, gleiche der des Regimes. Aktivisten würden gefoltert, Lebensmittel zurückgehalten, um die Preise zu treiben.

So braut sich in Ost-Ghouta eine zweite Revolution zusammen. Anwohner demonstrieren gegen die Milizentyrannei. Ein schwieriger Schritt, schließlich kämpften sie gegen die Unterdrückung durch Assad. "In Ost-Ghouta hassen sogar die Steine das Regime", sagt Abo Ali. "So ist es für das Regime einfacher, Ghouta zu umzingeln als einzunehmen."

Je stärker der Präsident in Bedrängnis geraten ist, desto mehr Poster mit seinem Konterfei haben die Behörden aufgehängt. Einer der Slogans: "Die Welt will Assad ändern, doch Assad wird die Welt verändern". "Als ob der noch etwas ändern könnte", bemerkt Sam Alrefaie trocken. Der 30-Jährige begreift sich nicht als Oppositioneller, "aber dass es mit Assad nicht weitergeht, denken die meisten."

Latakia ist Kernland des Regimes. Hier leben viele Alawiten, eine religiöse Minderheit, der auch die Assads angehören; hier liegen wichtige syrische und russische Militärstützpunkte. Assad sitzt hier fest im Sattel - bislang. Nun rücken Milizen aus dem Norden vor.

Und diesseits der Front brodelt es. In Latakia, berichtet Alrefaie, trennen Checkpoints die sunnitisch bewohnten von alawitischen Vierteln. "Sunniten verlassen ihre Viertel kaum, Alawiten meiden die Märkte der Sunniten. Nur im Zentrum ist abends Leben."

Wer kann, trifft sich in Cafés wie dem Mashrou'. Der Name spielt mit dem Begriff für schicke Wohnblöcke, wie sie vor dem Krieg zahlreich entstanden sind, Stein gewordener Aufschwung der Nullerjahre. Vom neoliberalen Kurs der Regierung profitierten damals vor allem Reiche. Wachsende Ungleichheit, sagen Experten, begünstigte den Aufstand 2011.

Wie überall im Land sind auch in Latakia kaum noch junge Männer auf den Straßen unterwegs. Wer kämpfen kann, wird eingezogen, Deserteuren droht die Todesstrafe. Trotzdem laufen Assad die Soldaten davon: Selbst in regimetreuen Kreisen wollen viele ihre Söhne nicht mehr an die Front schicken. So ernst ist die Lage, dass Präsident Assad jüngst eine Amnestie für Deserteure versprach.

Nachdem ein Cousin Assads im August einen Oberst in Latakia erschoss, demonstrierten Tausende Regimeanhänger hier gegen Willkürherrschaft. Es waren die ersten Proteste gegen ein Mitglied des Assad-Clans im eigenen Lager.

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