Süddeutsche Zeitung

Bürgerkrieg in Syrien:Kartograf des Krieges

Ein 19-jähriger Niederländer erstellt in seinem Kinderzimmer Karten vom syrischen Bürgerkrieg. Sie sind so gut, dass sie sogar auf CNN erscheinen.

Von Julia Ley

In seinem Kinderzimmer ist Thomas van Linge manchmal mitten im Krieg. Vom Haus seiner Eltern in Amsterdam aus verfolgt er die Entwicklungen in Syrien beinah in Echtzeit: Sieht sich die letzten Gefechte auf Youtube an, tauscht sich über Twitter mit Aktivisten aus, hört den Experten auf Al Jazeera und CNN zu. Dann lädt der 19-Jährige eine Syrien-Karte herunter und fängt an sie einzufärben: Rot für Assad, gelb für die Kurden, schwarz und grau für den Islamischen Staat - je nachdem wie stark er ist. Das Ergebnis veröffentlicht van Linge alle zwei Wochen auf Twitter. Mit großem Erfolg: Selbst internationale Medien wie die New York Times, CNN und die BBC nutzen seine Karten.

Als van Linge im Januar 2014 die erste Karte twitterte, stieg die Zahl seine Follower sprunghaft an. Mittlerweile sind es mehr als 20 000. Wie groß sein Einfluss ist, kann van Linge trotzdem nicht genau sagen. Er sichert sich nicht die Rechte an seinen Karten, jeder darf sie verwenden. Dass auch CNN darauf zurückgreift, merkte er nur zufällig beim Fernsehen. Van Linge geht es nicht ums Geld. Er will zeigen, wie schnell sich der Krieg ausbreitet. Auch dann, wenn die Welt nicht mehr hinschaut.

Van Linge begann hinzuschauen, als der Arabische Frühling Ägypten erreichte, im Frühjahr 2011. "Ich kannte Ägypten nur als das Land der Pyramiden und Kamele. Plötzlich war es das Land der Revolution, der Polizeigewalt und der Mörder." Es war eine Art politisches Erwachen. Die Bilder der Tausenden, die auf dem Tahrir-Platz nach ihrer Freiheit verlangten, ließen ihn nicht mehr los.

Er suchte eine aktuelle Karte vom syrischen Bürgerkrieg - und fand keine

Van Linge war damals 14. Der Arabische Frühling breitete sich aus, ergriff Libyen, Jemen, Syrien. Thomas van Linge verfolgte die Ereignisse am Computer. Irgendwann gegen Ende des Jahres 2013 suchte er eine Karte vom syrischen Bürgerkrieg, die zwischen gemäßigten syrischen Rebellen und den Terrortrupps des IS unterschied. Er fand keine. Im Westen kannten den IS zu diesem Zeitpunkt nur Experten, detaillierte Karten gab es nicht. Also machte van Linge sich selbst an die Arbeit. Für besonders geübt im Umgang mit Computern hält er sich nicht.

Bis zu 1100 Quellen verwendet van Linge für jede Karte. Eine Garantie, dass die Informationen auch stimmen, gibt es trotzdem nicht. Nur größtmögliche Sicherheit. Das heißt für van Linge: Quellen abgleichen, Beziehungen zu Informanten aufbauen, denen er vertraut. Und logisch denken können. Wenn eine Gruppe behauptet, ein Dorf eingenommen zu haben, fängt van Linge an zu suchen. Er schaut Youtube-Videos, die die Kämpfe dokumentieren. Im Hintergrund identifiziert er Straßen, Häuser und Sehenswürdigkeiten, die er mit Satellitenaufnahmen von Google Maps vergleicht. Ein langwieriger Prozess, der ihn jeden Tag mindestens zwei bis drei Stunden kostet. "Sonst könnte ich den neuesten Entwicklungen gar nicht mehr folgen".

Natürlich macht er trotzdem manchmal Fehler. "Das ist auch der komplexen Situation in Syrien geschuldet", sagt Pieter Van Ostaeyen, ein belgischer Dschihadismus-Blogger, den die Financial Times als "armchair terrorist tracker" bezeichnete, als einen, der vom Sessel aus Terroristen aufspürt. Van Ostaeyen veröffentlicht van Linges Karten auf seinem Blog. Er hält sie für besser als die großer Denkfabriken wie der amerikanischen Brookings Institution. Die Schwarmintelligenz des Internets bemerke Fehler ohnehin sofort. Beim nächsten Update bessert van Linge sie dann aus.

Doch auch wenn van Linge sehr gründlich arbeitet - unumstritten sind seine Karten nicht. Seine Geschichte ist ein Lehrstück über die Subjektivität, die auch in jeder vermeintlich objektiven Tätigkeit steckt - zumal in Zeiten des Krieges. Jede Karte ist immer auch ein Stück Interpretation. "Ich versuche, objektiv zu sein", sagt van Linge.

Trotzdem wird nach jedem Update diskutiert. Den Regimetreuen passt nicht, dass der gesamte Südosten Syriens grau eingefärbt ist, also als IS-Territorium dargestellt wird. Schließlich sei der IS vor allem in den Städten präsent, die ländlichen Gegenden hingegen kaum besiedelt. Den Sympathisanten der Kurden gefällt nicht, dass der Norden grün-gelb gestreift ist. Die regelmäßigen Streifen suggerierten, dass die Freie Syrische Armee ebenso einflussreich ist wie die Kurden. "Das ist sie nicht", sagt van Linge. "Aber so eine Karte soll die Dinge doch vereinfachen. Ich kann doch nicht an jedes Dorf 70:30 oder 40:60 Militärpräsenz schreiben."

Khaled Yacoub Oweis, der als Gastwissenschaftler für die Stiftung Wissenschaft und Politik zu Syrien forscht, glaubt, dass van Linges Karten sehr nah an die Realität herankommen. Doch auch er sieht Schwachstellen. Zum Beispiel schätzt Oweis den Einfluss der libanesischen Hisbollah im Westen Syriens stärker ein, als auf den Karten zu erkennen. "Ohne die Unterstützung der schiitischen Miliz wäre das Assad-Regime schon längst gefallen", sagt er.

Seine Sympathien beeinflussen seine Karten nicht, sagt er

Van Linge selbst nimmt die Kritik gelassen. Er macht keinen Hehl daraus, dass er den Bürgerkrieg nicht als neutraler Beobachter verfolgt. "Ich bin Aktivist", sagt er. Auf seinem Skype-Bild ist die Flagge der Freien Syrischen Armee (FSA) zu sehen - jener Gruppe von Soldaten, die einst für Assad kämpften und dann zu den Aufständischen überliefen. Doch van Linge glaubt nicht, dass seine Sympathien die Karten beeinflussen. Die Bedeutung der Hisbollah leugnet er nicht, sie halte aber nur wenig eigenes Territorium. Deshalb sei sie auf seiner Karte nicht so groß.

Fragt man van Linge, warum er die FSA unterstützt, zögert er nicht: "Weil sie die einzige politische Alternative ist." Die Kämpfer der FSA gelten als moderat und säkular. Für die religiösen Minderheiten in Syrien, die jetzt unter der entfesselten Gewalt der radikalen Islamisten leiden, wären sie das geringere Übel, glaubt van Linge. Auch setzten sich FSA-Einheiten noch immer für Frieden und Demokratie ein, womit sie in Syrien mittlerweile fast die Einzigen sind. Und zumindest Teile der FSA haben bewiesen, dass sie über ethnische Grenzen hinwegblicken können: Sie kooperieren mit Christen und Kurden.

Andererseits gibt es massive Menschenrechtsverletzungen. Einige Brigaden haben gegnerische Kämpfer als vermeintliche Spione festgenommen, misshandelt und hingerichtet. Andere kooperieren mit radikalen Islamisten. "FSA und Islamisten sind manchmal kaum noch zu unterscheiden", sagt Oweis. "Beggars can't be choosers", sagt van Linge. Wer betteln geht, kann nicht wählerisch sein.

Van Linge kann es. Um objektiv zu bleiben, spricht er mit allen Seiten. Außer mit dem IS. Es ist eine moralische Entscheidung. Aber nicht nur. Ob er schon mal bedroht wurde? "Nicht direkt." Indirekt? Nein, nein, eigentlich nicht. Angst hat er also keine? "Nein." Er zögert. "Aber ich versuche, unter ihrem Radar zu bleiben."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2634480
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/pamu
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.