Bürgerjournalismus:Hilfstruppe der vierten Gewalt

Die Amerikaner glauben immer weniger an das, was Fernsehen und Zeitungen verbreiten. Deshalb blüht der Bürgerjournalismus, wie ihn beispielsweise die Bloggerin Arianna Huffington betreibt.

Tobias Moorstedt

Das Impressum der amerikanischen Nachrichtenseite Off The Bus beginnt konventionell. Herausgeber, Chefreporter, Bildredakteur. Doch schon in den nächsten Rubriken finden sich ungewöhnlich viele Namen: 40 Korrespondenten, 55 Kampagnen-Beobachter, 100 Dokumentare.

Die Liste der Off the Bus-Reporter ist so lang, dass sie selbst auf einer eigentlich endlosen Webseite nicht mehr darstellbar ist. Das Impressum bildet gewöhnlich die Hierarchie und Verantwortungsebene einer publizistischen Einheit ab. Im Falle von Off The Bus aber erzählt es auch eine Geschichte und sendet eine deutliche Botschaft: "Wir sind viele!"

Off The Bus (OTB) ist ein Internet-Projekt der Bloggerin Arianna Huffington und des New Yorker Journalistik-Professors Jay Rosen, das eine "Wahlberichterstattung von Leuten liefern will, die nicht Mitglied im Club sind".

Mit den Kandidaten in Privatjets

Solche politischen Nachrichten werden in den USA vor allem von Reportern geliefert, die zusammen mit den Kandidaten in Privatjets und Bussen durchs Land ziehen.

Timothy Crouse hat diese Politik- und Medien-Nomenklatura schon 1973 in dem fabelhaften Buch The Boys on the Bus beschrieben: "Die ganze Gruppe war im selben mobilen Dorf isoliert, und nach einer Weile begann jeder an die gleichen Gerüchte zu glauben, alle hatten die gleiche Theorie, und alle schrieben die gleichen Texte."

Bei OTB sollen deshalb die Amateure zu Wort kommen, oder besser: normale, politisch interessierte und engagierte Menschen.

In der vergangenen Woche landete die Seite einen ersten Scoop: Mayhill Fowler, eine OTB-Reporterin, war bei einem kleinen Fundraising-Dinner von Barack Obama in San Francisco und hatte als einzige Journalistin das Aufnahmegerät laufen, als Obama über die "verbitterte weiße Mittelschicht redete, die sich an Gewehre und Kirchen klammert".

Freiwillige Mitarbeit

Fowlers Bericht bestimmte die politische Debatte vor der für die Demokraten wichtigen Vorwahl in Pennsylvania an diesem Dienstag. Die 60-jährige Mayhill Fowler arbeitete lange als Lehrerin in Oakland, bevor sie sich Ende 2007 auf der OTB-Webseite als freiwillige Mitarbeiterin registrierte.

OTB hat mittlerweile mehrere Tausend Helfer, die Rechercheaufträge übernehmen, die Blogs auf einer Meinungsseite veröffentlichen oder Hinweise und Tipps per E-Mail senden. "Es bereinigt eine Menge, wenn man draußen eine Stimme hat", sagte Fowler der New York Times.

Viele Amerikaner haben das Gefühl, Fernseh- und Printjournalisten hätten den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Deshalb boomen die alternativen Informationsquellen im Internet.

Kleine Kandidaten spielen auch eine Rolle

OTB ist nur eines von vielen Bürger-Medienprojekten, die plötzlich in der amerikanischen Medienlandschaft eine Rolle spielen. Scoop08 etwa ist ein Netzwerk von mehr als 1000 Studenten und Nachwuchs-Journalisten, die lokale Wahlkampf-Events besuchen und versprechen, sich nicht nur um Obama - Clinton - McCain zu kümmern, sondern auch um kleine Kandidaten und Themen.

Lesen Sie auf Seite zwei, was den Bürgerjournalismus genau definiert.

Hilfstruppe der vierten Gewalt

Videothevote heißt ein riesiges Netzwerk von Videokamerabesitzern, die sich am Wahltag in den Wahllokalen positionieren wollen, um den Prozess der Stimmabgabe zu kontrollieren, denn eine "erneute Schande einer manipulierten Wahl" solle den Amerikanern erspart bleiben.

Der Bürger-Journalist, der Nachrichten von der Basis liefert, "offen, demokratisch, interaktiv", wie Dan Gillmor in seinem Buch "We the Media" beschrieb, erfüllt den utopischen Gedanken der Cyberkultur: Die Menschen beschaffen sich alle Informationen selbst, die sie für das Denken und Debattieren in einer politischen Gesellschaft benötigen.

Zugangsschranken zum Journalismus gesunken

Die Zugangsschranken zum Journalismus sind durch die digitale Revolution gesunken. Um einen Sender zu betreiben, braucht man nur eine Digitalkamera, einen Computer und einen Netz-Zugang. Jeder kann in der digitalen Moderne ein Publizist sein.

Doch was genau definiert Bürgerjournalismus dann? Sind auf Mallorca urlaubende "Leserreporter" Bürgerjournalisten, weil sie Fotos an Bild schicken, auf denen Dieter Bohlen in Begleitung zu sehen ist? Oder machen nur die mächtigen und meinungsstarken Blogs wie DailyKos oder TalkingPoints Memo Bürgerjournalismus, die in den USA mehr Leser haben als traditionsreiche Tageszeitungen?

Jay Rosen von der New York University führt den vielbeachteten Blog PressThink und ist ein langjähriger Kritiker der Massenmedien.

Nicht in jedem steckt ein Pulitzer-Preisträger

Rosen ist kein Internet-Ideologe, der im Glasfaserkabel das Rettungsseil der Menschheit sieht, sondern versteht den Bürger-Journalismus als Experiment. "Die große Zeit des herkömmlichen Journalismus ist wegen der wirtschaftlichen Probleme der Massenmedien vorbei", sagt er, "aber was können gut vernetzte Freiwillige erreichen?" Rosen weiß: Nicht in jedem steckt ein Pulitzer-Preisträger.

Doch wenn man das individuelle Wissen der Menschen und ihre Energie bündelt, dann können sie als Masse eine Menge erreichen. Rosen klingt wie ein Wissenschaftler, der in einem Labor verschiedene Substanzen in ein Reagenzglas mischt und gespannt abwartet, was passiert. Mayhill Fowler spricht von OTB als "Amöbe - ein Organismus, der atmet, pulsiert und wächst".

Vorbild für das Konzept der Open-Source-Medien wie Scoop 08 und Off The Bus sind die Internet-Enzyklopädie Wikipedia und das Software-Projekt Linux. Wenn Tausende Menschen im Internet durch freiwillige Arbeit ein Betriebssystem programmieren können, so der Gedanke, dann sollten sie auch in der Lage sein, große Recherche-Projekte zu stemmen.

Hybridform aus Freiwilligkeit und professionellen Standards

Jay Rosen setzt auf eine Hybridform aus freiwilligen Beiträgen und einem redaktionellen Prozess nach professionellen Standards. "Distributed journalism" wird diese Form genannt.

So hat Off The Bus im Superdelegate Watch die Aufgabe erledigt, die mehr als 700 Superdelegierten der Demokraten zu porträtieren, die im August den Präsidentschaftskandidaten mitbestimmen. Auf einer interaktiven Karte kann man die 50 Bundesstaaten anklicken und alle Superdelegierten, ihre Karrieren, ihr Wahlverhalten, ihr politisches Engagement und ihre Loyalitäten verfolgen.

Lesen Sie auf Seite drei, wie der Kollektiv-Journalismus für mehr Transparenz sorgen will.

Hilfstruppe der vierten Gewalt

Das Besondere an den OTB-Artikeln ist auch, dass man nicht nur ein fertig editiertes Produkt zu sehen bekommt, sondern die Roh-Daten und Quellenverweise jederzeit einsehen kann.

Diese Transparenz teilt sich der Kollektiv-Journalismus mit Wikipedia, bei dem man im Artikel-Hintergrund auch immer die Geschichte seiner Entstehung, die Änderungen und Debatten einsehen kann. Und genau wie bei Wikipedia Fehler relativ schnell entdeckt und wieder korrigiert werden, baut auch Arianna Huffington auf die Selbstheilungskräfte der Community: "Wenn jemand etwas Falsches berichtet, dann kommt umgehend eine Kritik von den Nutzern."

"Wir können Tausende von Menschen zusammenschalten"

Natürlich arbeiten auch Zeitungen nach dem Prinzip des "distributed journalism", sagt Dan Gillmor, einer der Vordenker der "Citizen Media": Wenn beispielsweise der Newsdesk alle Stringer und Korrespondenten koordiniert, "aber das sind ein paar Dutzend Leute. Wir können Tausende von Menschen anrufen und zusammenschalten".

Die Informationsberge und Datenmengen des 21.Jahrhundert, meint Gillmor, könne man nur mit einer enormen Zahl von Mitarbeitern analysieren.

MSM heißen die Mainstream-Medien wie Sender und Zeitungen in der Internet-Sprache. Die Amerikaner haben das Vertrauen in sie, in die vierte Gewalt verloren. Weniger als 20 Prozent der Amerikaner glauben, was sie in der Zeitung lesen, berichtet die aktuelle Studie State of the News der Columbia Universität.

"Schluss mit den Ablenkungen"

Und laut einer Studie der Sacred Heart University glauben 90 Prozent der Amerikaner, dass die Medien bei der Berichterstattung eine politische Agenda verfolgen.

Die Internet-Bewegung Moveon.org richtete angesichts "der schlechten Performance der Mainstream-Medien" eine Petition ein, die in wenigen Tagen mehr als 250.000 Unterschriften sammelte. "Schluss mit den Ablenkungen", heißt es da, "die Medien müssen sich wieder auf die Themen konzentrieren, die das Leben der Menschen bestimmen."

Ian Inaba ist von den Zahlen nicht überrascht. "Der Irakkrieg, der Wahlbetrug der Republikaner in Florida im Jahr 2000", zählt der Gründer von Videothevote routiniert auf: "Die großen Medien haben es versäumt, die Demokratie zu schützen." Deshalb gründete Inaba die Hilfstruppe der vierten Gewalt: Videothevote sei "ein Netzwerk aus politisch involvierten Menschen, Demokraten und Republikanern", die eine Videokamera und ein Mobiltelefon besitzen und sich bereiterklären, an Wahltagen den Prozess der Stimmabgabe zu dokumentieren.

Ein Video kann man nicht übersehen

Es habe in den USA immer wieder Vorfälle gegeben, erzählt Inaba, bei denen Menschen der Zugang zum Wahllokal erschwert wurde und Wahlmaschinen offensichtlich manipuliert worden waren. Seine Idee: Ein Video kann man nicht übersehen, "die gefilmte Aktion spricht für sich selbst".

Bei der Vorwahl von Pennsylvania startet Videothevote jetzt den ersten Testlauf für die Präsidentschaftswahl im November. Die Initiative hat eine kostenlose Hotline eingerichtet, bei der Menschen Unregelmäßigkeiten melden können.

Inaba sieht Videothevote nicht als Konkurrent der Mainstream-Media, sondern als Ergänzung. "Die Mainstream-Medien haben die Reichweite," sagt er, "wir haben die Masse an Mitarbeitern. Ich möchte, dass die Medien vollständige, wahre und wichtige Informationen liefern." Klingt gut, scheint allerdings sehr kompliziert zu sein.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: