Süddeutsche Zeitung

Bürgergeld:"Das Verweigern fällt nun leichter"

Schon jetzt wird im Hartz-IV-System weniger sanktioniert, ähnlich wie beim geplanten Bürgergeld. Eine kleine Minderheit der Hilfsbezieher sei dadurch schlechter erreichbar, sagt der Jobcenter-Sprecher Stefan Graaf. Aber es gibt auch positive Effekte.

Interview von Roland Preuß, Berlin

Arbeitsminister Hubertus Heil will Hartz IV, also das Arbeitslosengeld II, durch ein Bürgergeld ersetzen. Arbeitssuchende sollen dann weniger staatlichen Druck spüren. Seit Juli gilt bereits ein sogenanntes Sanktionsmoratorium, so dass keine Leistungsminderungen mehr zu befürchten sind, wenn etwa ein Arbeitsangebot abgelehnt oder eine Weiterbildungs­maßnahme abgebrochen wird. Stefan Graaf leitet das Jobcenter für die Region Aachen und ist Sprecher des bundesweiten Netzwerks der Jobcenter.

SZ: Herr Graaf, wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Sanktionsmoratorium?

Stefan Graaf: Es gibt tendenziell mehr Menschen, die nicht mit den Jobcentern kooperieren; sie sagen: Ihr könnt meine Leistungen nicht kürzen. Für unsere Förderangebote oder Fortbildungsmaßnahmen stimmt das ja auch. Das betrifft aber nur wenige Kunden. Bei ihnen müssen wir noch mehr auf persönliche Überzeugungsarbeit setzen.

Es gibt aber auch Kunden, die Termine nicht mehr wahrnehmen, obwohl dann zehn Prozent der Leistung gekürzt werden können. Wir haben da zwar noch keine harten Fakten, aber so sind die Rückmeldungen.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Den Kolleginnen und Kollegen fällt es schwer, mit diesen Fällen umzugehen. Die fragen sich: Wie soll ich denn jetzt noch helfen? Es gibt auch Menschen, die Jobcenter-Mitarbeiter nicht mehr in ihre Wohnung lassen mit dem Argument, sie müssten das ja nicht. Allerdings reden wir hier von einer Minderheit von vielleicht zwei bis drei Prozent. Es ist herausfordernder an diese Menschen heranzukommen, das Verweigern fällt ihnen nun leichter. Es gibt aber auch einen positiven Effekt.

Nämlich?

Der Verzicht auf die Sanktionen wirkt wie ein Filter für unsere Fördermaßnahmen, zum Beispiel in den Kursen zur Berufsorientierung. Die Betreuer dort stellen fest: Die Unzufriedenen bleiben weg, ebenso die Menschen, die nur zum Schein mitmachen, um Leistungsminderungen vom Jobcenter zu vermeiden. Die kommen jetzt nicht mehr, sie müssen ja keine Minderung mehr fürchten. Die Personen, die dort hingehen, sind wirklich motiviert. Da ist jetzt eine viel bessere Stimmung.

Das geplante Bürgergeld soll den Jobcentern mehr Entscheidungsspielraum geben, etwa bei den Sanktionen. Finden Sie das gut oder wird da etwas auf die Vermittler abgewälzt?

Ein größerer Spielraum und mehr Gerechtigkeit im Einzelfall ist richtig. Die geplante Vertrauenszeit aber, in der sechs Monate lang gegenüber den Kunden kaum etwas durchgesetzt werden kann, das sehe ich mit Unbehagen. Gerade zu Beginn ist es wichtig, die Weichen gemeinsam richtig zu stellen. Wenn dies jemand nicht möchte, geht leider wertvolle Zeit verloren.

Im Streitfall ist eine Schlichtung vorgesehen. Mir ist unklar, wie das funktionieren soll. Eigentlich soll das Bürgergeld helfen, Bürokratie abzubauen, durch ein solches Schlichtungsverfahren aber werden wir unter Umständen mehr Aufwand haben. Künftig kann jeder Kunde im Streitfall anrufen und sagen, er komme mit seinem Vermittler nicht zurecht. Dann kann er oder sie einen Schlichter verlangen.

Immerhin wissen Sie mit dem Gesetzentwurf zum Bürgergeld nun in etwa, was auf Sie zukommt.

Die Zeit wird trotzdem knapp. Bis der Entwurf durch Bundestag und Bundesrat ist, ist es voraussichtlich Ende November. Das ist ein sehr kurzer Vorlauf für die Jobcenter und die notwendigen Arbeiten. Eigentlich brauchen wir bei einer so großen Reform etwa ein halbes Jahr für die Vorbereitung. Die IT-Programme sind anzupassen, Mitarbeiter zu schulen und so weiter. Und aktuell sind wir noch schwer mit der Aufnahme und Betreuung ukrainischer Kriegsflüchtlinge beschäftigt. Die aktuelle Steigerung der Energie- und Heizkosten wird uns auch eine Menge Arbeit bringen.

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