Das ungeliebte Hartz-IV-System zu überwinden, ist das wichtigste Ziel jenes Reformprojekts, dessen Einführung die Ampelkoalition nach wie vor für den 1. Januar 2023 plant. Doch die Zeit ist inzwischen sehr knapp geworden.
Der Bundestag hat mit der Mehrheit der drei Fraktionen von SPD, Grünen und FDP am vergangenen Donnerstag zugestimmt. Doch der Bundesrat und die Mehrheit der unionsgeführten Länder ließ das Vorhaben am Montag durchfallen. (Außerdem waren in der Sondersitzung der Länderkammer auch die sogenannten Dezember-Hilfen Thema, siehe hier.) Das Problem für die Ampel beim Bürgergeld: Da jene Länder, in denen die Union zumindest mitregiert, eine Mehrheit von 39 zu 30 Stimmen haben, müssen die Koalitionsfraktionen mit CDU und CSU einen Kompromiss suchen.
Was plant die Koalition?
SPD, Grüne und FDP wollen Menschen, die Sozialleistungen der sogenannten Grundsicherung beziehen, mehr Geld zahlen. Die Erhöhung der Regelsätze soll für einen alleinstehenden Erwachsenen etwa 50 Euro im Monat ausmachen, dieser bekäme dann 502 Euro. Die Anhebung liegt mit elf Prozent ganz leicht über der derzeitigen Inflationsrate.
Der Bundesregierung reicht eine einfache Erhöhung der Leistungen jedoch nicht aus: Sie will die "größte Sozialreform seit 20 Jahren" verwirklichen, wie es Heil ausdrückte. Weniger Sanktionen für Arbeitssuchende, mehr Schonvermögen und mehr Weiterbildung, mit diesen Stichworten lässt sich das Projekt umschreiben.
Künftig soll für Leistungsbezieher eine Karenzzeit von zwei Jahren gelten. In dieser Phase übernimmt der Staat die Kaltmiete oder die Raten für einen Hypothekenkredit in unbegrenzter Höhe. Die Idee: Die Menschen, die ihren Job verlieren und dann Bürgergeld beziehen, sollen sich auf ihre Jobsuche konzentrieren können und nicht dazu gezwungen werden, sich eine neue Wohnung zu suchen. Bisher sind die Wohnkosten für Hartz-IV-Beziehende gedeckelt. Wer eine zu große und zu teure Wohnung hat, muss früher oder später umziehen.
Heizkosten für Bürgergeld-Bezieher sollen künftig in "angemessener Höhe" übernommen werden. Ursprünglich hatte Heil auch hier eine unbegrenzte Übernahme der Kosten geplant, doch die FDP beharrte darauf, dass es in der derzeitigen Energiekrise Sparanreize geben müsse.
Die Sanktionen sollen im Vergleich zum Hartz-IV-System abgemildert werden. In den ersten sechs Monaten - der sogenannten Vertrauenszeit - kann Empfängern bis zu zehn Prozent des Bürgergelds gekürzt werden, etwa, wenn sie wiederholt Termine beim Jobcenter verpassen. Nach den sechs Monaten kann es dann zum Beispiel Kürzungen von 20 oder 30 Prozent geben, wenn jemand eine zumutbare Stelle nicht antritt. Im Hartz-IV-System waren die Regeln ursprünglich strenger, allerdings waren während der Corona-Pandemie die Sanktionen ohnehin ausgesetzt. Im Sommer hat die Bundesregierung außerdem - mit anschließender Zustimmung des Bundesrates übrigens - eine vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Übergangsregelung getroffen, die den Großteil der Sanktionen bis Juni 2023 ausschließt. Nur wenn Hartz-IV-Empfänger absichtlich Termine versäumen oder ihren Meldepflichten nicht nachkommen, kann die Leistung derzeit gekürzt werden.
Änderungen plant die Ampel auch beim sogenannten Schonvermögen, also jener Summe, die Empfängerinnen und Empfänger behalten dürfen, obwohl sie Geld vom Staat bekommen. Anders als das Arbeitslosengeld und die Rente ist Hartz IV und künftig auch das Bürgergeld keine durch Beiträge finanzierte Sozialleistung, sondern an die Bedürftigkeit des Einzelnen gekoppelt. Betroffene müssen nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht auf andere Weise bestreiten können, etwa durch das Einkommen eines Partners oder durch Mieteinahmen. Bisher waren die Regeln dazu sehr streng. Bei einem Mindestbetrag von 3100 Euro wurden pro Lebensalter 150 Euro Schonvermögen zugestanden, ein 48-Jähriger durfte also etwa 7200 Euro behalten. Künftig dürfen Bürgergeldempfänger nach den Plänen der Ampel in den ersten zwei Jahren der Karenzzeit jeweils 60 000 Euro behalten, für jede weitere Person im Haushalt sind 30 000 Euro erlaubt.
Die Ampel will außerdem Aus- und Weiterbildung stärker fördern. Anstatt Menschen möglichst schnell zu vermitteln, im Zweifel auch in Aushilfsjobs, sollen Arbeitssuchende künftig lieber eine Ausbildung oder eine Qualifizierungsmaßnahme absolvieren.
Minimal geändert werden sollen auch die Zuverdienstregeln. Generell wird ein sehr großer Teil des Geldes, das Hartz-IV-Empfängerinnen und Empfänger zusätzlich verdienen, auf die Leistung angerechnet. Jenseits von 100 Euro Freigrenze sind es bisher zumeist 80 Prozent. Mit der Bürgergeld-Reform gibt es eine kleine, fast kosmetisch erscheinende Änderung. Im Einkommensbereich zwischen 520 Euro (das ist die neue Minijob-Grenze) bis 1000 Euro werden künftig nur noch 70 Prozent angerechnet. Ein Rechenbeispiel: Verdient eine Hartz-IV-Empfängerin bisher 800 Euro dazu, dann darf sie derzeit lediglich 240 Euro davon behalten. Künftig sind es 268 Euro.
Was kritisiert die Opposition?
Einen wichtigen Teil der Reform - die Erhöhung der Regelsätze - trägt die Union mit. Allerdings kritisiert sie das Wegfallen von Sanktionsmöglichkeiten und die Höhe des Schonvermögens. Ihrer Ansicht nach ist der Abstand von Sozialleistungsempfängern und Menschen mit niedrigem Arbeitseinkommen nicht ausreichend gewahrt. Die Reform bewirke, dass sich Arbeit nicht mehr lohne.
Die Kritik von CDU und CSU richtet sich vor allem gegen die Vertrauenszeit und die Karenzzeit. So würden Leistungsbezieher, die eine zumutbare Arbeit ablehnten, nicht genug gefordert. Außerdem würden hohe Vermögen zu sehr geschont. Dass eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern bis zu 150 000 Euro behalten dürfte, sei nicht vermittelbar. Damit würden Menschen mit niedrigem Einkommen Arbeitslose finanzieren.
"Dieses Bürgergeld ist ungerecht und die Bürgerinnen und Bürger spüren auch, da stimmt etwas nicht", sagt CDU-Generalsekretär Mario Czaja im ZDF-"Morgenmagazin". Die SPD ziele darauf ab, Langzeitarbeitslose dauerhaft zu alimentieren. Das sei mit der Union nicht machbar. "Wir möchten Fordern und Fördern behalten", so Czaja.
Was sagen Sozialverbände und die Linke?
Die Sozialverbände verteidigen die Reform der Ampelregierung. "Ich hoffe, dass die Union es im Bundesrat nicht blockiert, weil die Menschen, jetzt, wo die Preise für Lebensmittel und Energie hoch sind, auf der einen Seite eine Entlastung brauchen, und auf der anderen Seite Weiterbildung und Qualifizierung", sagt Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbandes VdK im ZDF. Auch der Sozialverband Deutschland warnt die Union vor einer Blockade: "Wer das Bürgergeld für parteipolitische Spielchen nutzt, sollte sich dringend an seine gesellschaftliche Verantwortung erinnern", sagt die Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Zuvor hatten die Verbände jedoch auch mehrfach Kritik an den Plänen der Ampelregierung geäußert. Tenor: Die Erhöhung der Regelsätze reicht nicht aus. Diese Kritik hat auch die Linkspartei aufgegriffen. "Das Bürgergeld ist zu wenig für Würde und auch zu wenig für eine neue Waschmaschine", sagte Fraktionschef Dietmar Bartsch vergangene Woche im Bundestag. Die Partei fordert eine Anhebung um mindestens 200 Euro.
Unterstützung für diese Position kommt von einigen Experten. So hat etwa Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung das Bürgergeld bereits vor Wochen als "Reförmchen" bezeichnet. Wiederholt argumentierte Fratzscher, dass die Erhöhung auf 500 Euro zwar zunächst gut klinge, aber angesichts der dramatisch steigenden Lebensmittelpreise von 15 bis 20 Prozent, die vor allem Hartz-IV-Empfänger treffe, bei Weitem nicht ausreichend sei.
Wie geht es weiter?
Nun muss der Vermittlungsausschuss angerufen werden. In ihm sitzen Vertreter des Bundesrates und des Bundestages. Bis Ende November, so Arbeitsminister Heil, müsse die Kompromisssuche abgeschlossen sein. Am Freitag, den 25. November, kommt der Bundesrat zu seiner nächsten regulären Sitzung zusammen und könnte dann einem möglichen Kompromiss zustimmen. Funktioniert das nicht, wird das Gesetz aller Voraussicht nach nicht am 1. Januar in Kraft treten.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen?
"Wir haben keinen Druck, diese Reform im Schweinsgalopp durch die Parlamente zubringen", sagte Czaja im ZDF. Die Union hat vorgeschlagen, die Reform in zwei Teile zu teilen, um den zeitlichen Druck herauszunehmen: Die Erhöhung der Regelsätze, die sie sofort mitbeschließen wolle, und eine größere Sozialreform, für die man mehr Zeit brauche und die dann zu einem späteren Punkt kommen könne.
Es gilt aber derzeit als wenig wahrscheinlich, dass die Ampelregierung auf diesen Deal eingeht und sich ihr großes Projekt von der Union torpedieren lässt. Kompromisse ließen sich möglicherweise bei der Höhe des Schonvermögens oder in Bezug auf die Dauer und die konkrete Ausgestaltung von Vertrauens- und Karenzphase finden.
Wie erbittert die Debatte geführt wird, zeigte jedoch bereits die Sitzung des Bundestages in der vergangenen Woche. Da war auf Seiten der Regierung von "alternativen Fakten" die Rede, die die Union verbreite. Offenbar hatten sich CDU und CSU bei ihrer Behauptung, Arbeit lohne sich künftig nicht mehr, auf Fallbeispiele gestützt, bei denen Sozialleistungen außer Acht gelassen wurden, die Niedriglohnbezieher erhalten, etwa einen Kinderzuschlag. Die Ampelparteien bezeichnen das Vorgehen der Union daher als Irreführung.
Anmerkung der Redaktion: Auf Hinweise von Leserinnen und Lesern haben wir zwei Passagen präzisiert. Eingefügt wurde, dass die Erhöhung des Schonvermögens lediglich in der zweijährigen Karenzzeit greift. Genauer erläutert, in einem Punkt korrigiert und mit einem Zahlenbeispiel versehen wurde außerdem die Stelle über Hinzuverdienstgrenzen im neuen Bürgergeld. Vorher konnte der Eindruck entstehen, die Zuverdienstgrenzen würden generell deutlich angehoben. Das ist jedoch nur in sehr engen Grenzen der Fall.