Bürgerdialog nach Ausschreitungen:Chemnitz zwischen Liebe und Hass

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer stellt sich in der aufgewühlten Stadt den Bürgern. Es wird gebuht, geschrien - und am Ende des Abends auch ein bisschen versöhnt.

Von Ulrike Nimz und Antonie Rietzschel, Chemnitz

"Liebe Chemnitzerinnen und ..." - weiter kommt Barbara Ludwig nicht. Ein Mann mit Karohemd steckt sich die Trillerpfeife in den Mund. "Schande", schreit eine Frau aus den hinteren Reihen. Immer wieder: "Schande!" Die Worte der Oberbürgermeisterin von Chemnitz gehen unter in Getriller und Gebrüll. Als es wieder ruhiger wird, dringt das Ende des Satzes durch: "...eine Stadt zwischen Liebe und Hass." Es klingt wie das inoffizielle Motto des Abends.

Die sächsische Regierung hat zum Dialog geladen. Ministerpräsident Michael Kretschmer ist da, sein Vize, der SPD-Politiker und Wirtschaftsminister Martin Dulig. Der Innenminister. Die Mininisterin für Kultur und Wissenschaft. Die Integrationsministerin. Der Justizminister. Sie stehen fast militärisch stramm auf der Bühne, einer neben dem anderen. An diesem Donnerstag geht es darum, Haltung zu bewahren, Haltung zu zeigen. 550 Menschen nehmen teil.

Der Termin in Chemnitz ist Teil der "Sachsengespräche" und war schon lange für diesen Tag geplant. Er fällt in eine Woche, die die Stadt aufgewühlt hat. Es begann mit dem Tod von Daniel H. Der 35-Jährige starb am Sonntagmorgen nach einer Messerstecherei. Ein Syrer und ein Iraker wurden festgenommen. Fremdenfeindliche und rechtsextreme Gruppen riefen zu einer Demo auf. Am Montagabend versammelten sich 6000 Menschen in Chemnitz zu einem "Trauermarsch", darunter viele Neonazis und Hooligans. Auch für diesen Abend hat "Pro Chemnitz" zur Kundgebung gerufen. Ungefähr 900 sind gekommen. Diesmal schaffen sie es nicht, den Abend zu dominieren.

Michael Kretschmer eröffnet das "Sachsengespräch" im Stadion des Chemnitzer FC mit einer Trauerminute für Daniel H. "Wir sind alle in Gedanken bei ihm." Dafür bekommt er Applaus. Doch aus den hinteren Reihen zischt es: "Heuchelei." Als Kretschmer dann auf die Hitlergrüße am Montag zur Sprache kommt, buht eine einzelne Person. Der Mann im Karohemd und Trillerpfeife sagt wie zu sich selbst aber eben sehr laut: "Das war wohl 'ne Zecke."

Michael Kretschmer spricht von Menschen, die am Montag außer Rand und Band geraten sind. Sie sind es auch an diesem Abend. Als sich der Ministerpräsident bei der Band "Kraftklub" bedankt, dass sie die Initiative ergriffen hat und am Montag zu einer Kundgebung gegen Rechtsextremismus aufruft, da tobt der Saal - aus Protest. Kretschmer redet unbeirrt weiter über den Wert der Zivilgesellschaft. "Das ist ein Moment, in dem wir sehen, dass wir alle gefordert sind."

"Wir als normale Bürger haben die Nase voll"

Als Martin Dulig das Wort ergreift, spricht er sehr leise. Er zwingt die Menschen zum Zuhören. Kein Getriller, keine Rufe diesmal. Nur von der Gegendemo tönt es leise herüber: "Haut ab." Wenige Minuten später beginnen die Einzelgespräche. Michael Kretschmer diskutiert ein Stockwerk höher, auf weißen Schalensitzen, flankiert von zwei Frauen. Man sieht ihnen ihre Rage an. Beide sitzen kerzengerade, fixieren den Ministerpräsidenten. "Ich arbeite im Sicherheitsgewerbe", beginnt eine von beiden und holt tief Luft. "Wir fühlen uns wie der letzte Dreck." Sie betont jedes Wort. Ständig sei nur die Rede von der Polizei, niemand interessiere sich für die kleinen Leute. "Wir als normale Bürger haben die Nase voll", ergänzt die andere. Sie sei weder links noch rechts, nur eine konservative Bürgerin, die sich einen funktionierenden Rechtsstaat wünscht. Sie wünscht sich auch, dass der Ministerpräsident die Veranstaltung am Karl-Marx-Monument verbieten soll, das kostenlose Konzert von Kraftklub, den Toten Hosen und vielen anderen.

Für viele in der Runde ist das Konzert eine neuerliche Provokation. In ihrer Stadt ist ein junger Mann ermordet worden, von Fremden. Und bloß, weil sie das verurteilen, sollen sie nun alle Nazis sein? Die Menschen, die den Ministerpräsidenten an diesem Abend zur Rede stellen wollen, fühlen sich auf der richtigen Seite, sie fühlen sich in ihrer Stadt nicht mehr sicher: wegen den Grüppchen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit im Stadthallenpark bilden, wegen der jungen Männer, die jeden Passanten mustern wie einen potenziellen Rauschgiftkunden. Noch wütender mache sie nur die Berichterstattung, die Lügen, die Pauschalisierung. Am Sonntag habe es keine Hetzjagden gegeben, nur ein einziges Video, das zeigt, wie ein einzelner Mann einem anderen nachstellt. In der Demo am Montag seien ganz normale Menschen gelaufen, Trauernde, Rentner, aber die Medien machten daraus einen braunen Mob. Ein Mann schreit ins Mikro: "Das muss aufhören! Wir sind stolz auf unsere Stadt!"

Kretschmer dreht die Stimmung im Raum

Michael Kretschmer bleibt ruhig, Zwischenrufer weist er in die Schranken. "Sie brauchen hier nicht so rumschreien", sagt er oder einfach nur: "Langsam." Eine Demonstration, in der Hitlergrüße gezeigt würden, sei keine friedliche Demo, erklärt er geduldig. "Und jeder Angriff aus einer unangemeldeten Demo ist einer zu viel." Am Ende hat er die Damen in der Runde soweit, dass sie ihm applaudieren, er hat es geschafft, Herr der Lage zu bleiben, die Stimmung im Raum zu drehen, ohne den Anwesenden nach dem Mund zu reden.

Unten, im Hauptsaal hat sich eine riesige Traube um den Tisch von Innenminister Roland Wöller gebildet. Sein Kopf ist rot, er schwitzt. Vor Erregung zitternde Hände sind in der Luft. Die Fragen sind kaum zu hören, nur die Antworten des CDU-Ministers. Zu Flüchtlingen: "Wir haben jetzt mit der Einrichtung von Ankerzentren begonnen, damit die nicht einfach so untertauchen können." Zur Polizei: "Wir stellen mehr ein, verbessern die Ausbildung, die Ausrüstung." Es gibt viel ausgestoßene Luft und viel Kopfschütteln.

Bei Integrationsministerin Petra Köpping, die für Geflüchtete zuständig ist, sitzt nur eine kleine Gruppe. Menschen, die sich engagieren. Die erzählen, dass "ihr Walid" jetzt bei ihnen lebt, nicht in der Wohngruppe, weil die jungen Flüchtlinge dort sich selbst überlassen werden. Köpping hört sich das alles in Ruhe an, notiert, verspricht Einzelfälle zu prüfen.

Am Buffet kann sich die Dame, die am Anfang "Schande" rief, nicht entscheiden: Frischkäseschnittchen oder Laugenbrezel? Dann gründet sie mit einer Rentnerin im grünen Jäckchen, einem Bild-Reporter und dem SPD-Politiker Dirk Panter eine eigene Gesprächsgruppe. Es geht wild durcheinander: "Wir sollen nach Tunesien in den Urlaub und die flüchten von dort", sagt die Rentnerin. "Ich bin für die eine Schlampe, wenn ich Hotpants trage", sagt die Frau. Und in der Schule würden die sich ja auch nicht benehmen. Die, die, die. Dirk Panter versucht die Kontrolle über das Gespräch zu gewinnen, lenkt es auf Bildungspolitik, auf die Verkleinerung der Klassengrößen.

Es ist kurz vor 21 Uhr. Die Luft im Saal ist dünn. Ein sanftes Kling-Klang aus den Lautsprechern läutet das Ende des Abends ein. Aus dem Gebrüll ist Gemurmel geworden.

Zur SZ-Startseite
Sitzung des Sächsischen Landtages

Ausschreitungen in Chemnitz
:"Uns fehlt im Osten eine ganze Generation"

Die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping kritisiert nach den Ausschreitungen in Chemnitz den geringen Widerstand durch die Zivilgesellschaft. Politiker allein könnten den Kampf gegen Rechtsextremismus nicht führen.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: