Bürgerdialog in Jena:Merkel zwischen Hölzchen und Stöckchen

Merkel beim Bürgerdialog

Die EU stellt hier niemand grundsätzlich in Frage: Kanzlerin Angela Merkel (rechts) im Dialog mit Bürgern in Jena.

(Foto: dpa)
  • Beim Bürgerdialog in Jena spricht Kanzlerin Merkel mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern über Europa.
  • Die hätten ganz gern mehr Visionen und Leidenschaft.
  • "Europa ist mühsam", sagt Merkel - und legt das an vielen Punkten überzeugend dar.
  • Doch am Ende fordert sie dazu auf, "Europa wie einen Schatz zu begreifen".

Von Nico Fried, Jena

Irgendwann verheddert sich Angela Merkel beinahe selbst in ihren Erläuterungen. Es geht gerade um einen Finanzminister für den Euro-Raum, und dabei entfaltet die Bundeskanzlerin die ganze komplizierte Struktur der Europäischen Union: Dass es 28 Mitgliedsstaaten gibt, aber nicht alle zum gemeinsamen Währungsraum gehören; dass deshalb auch nicht das Europäische Parlament einfach einen Euro-Finanzminister kontrollieren könnte; dass es dann noch die Kommission gibt mit dem Haushaltskommissar; dass einer immer die Präsidentschaft hat, der auch irgendwas macht, auch wenn man als Zuhörer längst den Überblick verloren hat, was eigentlich genau. Aber da fällt Merkel gerade ein, dass das, was sie erläutert hat, sowieso nicht stimmt, weshalb sie jetzt sagt: "Quatsch, das macht ja der Vorsitzende der Euro-Gruppe." Ach so.

"Sprechen wir über Europa" - so heißt die Veranstaltung am Dienstagnachmittag in Jena. Interessierte Menschen aus Thüringen sitzen in einer Art Mini-Arena in einem früheren Umspannwerk. Sie konnten sich bei den regionalen Zeitungen und dem Mitteldeutschen Rundfunk bewerben. Wie erleben sie Europa? Was bedeutet es ihnen? Und wie wünschen sie sich die EU? Gedacht ist das Ganze als Dialog zwischen Merkel und den Bürgerinnen und Bürgern. Aber es ist doch eher ein Frage-Antwort-Format, ähnlich den Fernsehsendungen vor einer Bundestagswahl, mit manchmal etwas längeren Fragen und stets sehr langen Antworten.

"Europa ist mühsam", sagt Merkel einmal. Das ist an diesem Nachmittag unverkennbar, obgIeich niemand die Europäische Union grundsätzlich in Frage stellt. Im Gegenteil. Zur Eröffnung kritisiert ein Herr, die Europäische Union verkaufe sich zu schlecht. Am Ende fragt eine Dame, wie man die Menschen stolz darauf machen könne, Europäer zu sein. Und zwischendurch bitten zwei Teilnehmer die Kanzlerin um mehr Visionen und mehr Leidenschaft. Auf den letzten Punkt antwortet Merkel lächelnd: "Was die Leidenschaft angeht, jeder hat da seine eigenen Stärken, sicherlich."

Merkels Leidenschaft gehört den Details. Immer wieder mal muss die Kanzlerin sich zwischen Hölzchen und Stöckchen bremsen. "Ich könnte Ihnen jetzt erzählen... - aber ich darf nicht zu lange erklären", sagt sie einmal beim Thema Gesundheitswesen. Und als es um Migration geht, mahnt Angela Merkel selbst die Kanzlerin: "Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu lange erzähle."

Häufig, wenn man meint, sie habe nun alles gesagt, fällt ihr nach einer Pause plötzlich doch noch was ein. Ganz offenkundig will Merkel sich nicht nachsagen lassen, sie sei einer Frage ausgewichen. Aber manchmal ist sie sich anscheinend selbst nicht sicher, ob sie sich verständlich machen konnte. Nur 15 der 55 Bürgerinnen und Bürger kommen so in immerhin 90 Minuten zu Wort.

Andererseits die Migrationspolitik

Merkel bemüht sich, die positiven Seiten Europas herauszustellen. In diesen Tagen des Handelsstreits mit den USA sei sie froh, dass man eine einheitliche europäische Politik habe. Und ohne die türkische Lira zu erwähnen, äußert sie sich auch froh darüber, "dass wir eine gemeinsame Währung haben, gegen die man nicht so einfach spekulieren kann". Sie hebt die schnelle Einigung auf mehr gemeinsame Verteidigungsanstrengungen hervor und berichtet vom scharfen Vorgehen der EU in Umweltfragen, an dem auch Deutschland gelegentlich zu beißen habe. Als ein Teilnehmer die angebliche Regelungswut Europas mit dem legendären Krümmungsgrad der Gurke kritisieren will, kontert sie, dass dieses Thema schon seit 2009 erledigt sei.

Andererseits natürlich die Migrationspolitik. Es sei "ärgerlich", wenn sich manche Staaten nicht an die Verabredungen hielten, sagt Merkel. Sie bezieht das auf die versprochenen Zahlungen in einen EU-Afrika-Fonds zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Aber sie meint es bei diesem Thema bekanntlich etwas allgemeiner.

Noch eine Geschichte aus der Bürokratie der Viehhaltung

Sie stellt nicht in Abrede, welchen Einfluss Lobbyisten auf die Europa-Politik haben: "Was glauben Sie, wie lange ich mich schon mit Bananen beschäftigt habe und ihrer Größe". Und einmal sei es sogar um die Beschaffenheit des Fußbodens in Friseursalons gegangen. Dahinter steckten natürlich immer Verkaufsinteressen der jeweiligen Anbieter. Als Politikerin verbinde sie mit Europa in erster Linie "lange Nächte", sagt die Kanzlerin. Aber als Bürgerin eben auch den Vorzug der Reisefreiheit und ein Gefühl der Sicherheit.

Ein Abiturient, der später Öko-Landwirt werden möchte, hat nach einigen Minuten Referat durch die Bundeskanzlerin zweifellos einen tiefen Einblick in die ganze Vielfalt europäischer Agrarpolitik gewonnen. Diese hat die Milchquoten erwähnt, die es nicht mehr gibt; die Auswirkungen auf die Preise, wenn die Chinesen ihr Milchpulver plötzlich in Australien kaufen; und auch die Kappungsgrenze für Betriebsgrößen hat sie nicht vergessen.

Nun erzählt die Kanzlerin noch eine Geschichte aus der Bürokratie der Viehhaltung: Bauern in Mecklenburg-Vorpommern hätten ihr von Entschuldigungsschreiben berichtet, die sie wie Eltern für ihre Schulkinder ausfüllen müssten, wenn eine Kuh einen Tag lang nicht auf die Weide gehen konnte. Es gibt dann weniger Geld von der EU. Das mit den Schreiben sei zwar "blöd", sagt Merkel, weil jeden Tag habe vielleicht "die eine Kuh dieses und die andere jenes", und dann kämen ziemlich viele Schreiben zusammen. Andererseits gebe es eben auch Betrüger, die einfach alle Beihilfen kassierten, obwohl ihre Viecher gar nicht auf der Weide waren. Das könne man natürlich auch nicht hinnehmen. "Das ist so das Hin und Her, in dem wir uns bewegen", sagt die Kanzlerin.

Merkel lobt den Kompromiss

Das jüngst viel diskutierte Thema Kindergeld fällt auch in diese Kategorie. Merkel lässt erkennen, dass sie sich schon vorstellen könne, die Zahlungen den jeweiligen Lebensverhältnissen in den betroffenen Ländern anzupassen. Sie erklärt das steuersystematisch und hat alle relevanten Zahlen im Kopf. Für Rumänen und Bulgaren würde das eine Verringerung der Zahlungen bedeuten, sagt sie. Aber zu bedenken sei eben auch, dass für Kinder von Niederländern womöglich sogar mehr zu bezahlen sei. Noch so ein Hin und Her, in dem man sich bewegt.

Ein wenig Pathos ringt sich Merkel dann auch noch ab. Frieden erscheine inzwischen wie eine Selbstverständlichkeit , müsse aber doch von jeder Generation neu erarbeitet werden. "Wir dürfen da nicht leichtfertig werden". Sie rate "uns allen, Europa als einen Schatz zu begreifen". Und auch den Kompromiss möge man nicht kleinreden: Er stehe immer dafür, dass etwas vorankomme. Europa könne nicht immer nur das sein, "was Deutschland will". Sie sei auch durchaus bereit, noch öfter über die guten Seiten Europas zu sprechen. "Meistens werde ich aber danach gefragt, was nicht funktioniert."

Noch so ein Hin und Her, in dem sie sich bewegt.

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