Bündnispolitik:Wenn die Türkei aus der Nato austreten würde

Bündnispolitik: Panzer der türkischen Armee auf dem Weg zur syrisch-türkischen Grenzstadt Dscharabulus.

Panzer der türkischen Armee auf dem Weg zur syrisch-türkischen Grenzstadt Dscharabulus.

(Foto: AFP)

Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario und wie groß wäre das Loch, das die Türkei reißt?

Von Luisa Seeling

Zum Jubiläumsgipfel sind sie alle gekommen, die Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder. 70 Jahre alt wird das Atlantische Bündnis an diesem 4. April 2019. Es gibt Festreden, Selbstvergewisserungen. Doch dann sprengt der türkische Präsident die Feierlichkeiten mit einer Ankündigung: Sein Land, sagt Recep Tayyip Erdoğan am Rande des Gipfels, werde die integrierte Kommandostruktur des Bündnisses verlassen. Weitere Schritte behalte er sich vor. Auch ein kompletter Austritt liege als Option auf dem Tisch.

So könnte es sich abspielen, wenn eintritt, was Experten der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als Szenario entworfen haben: Die Türkei verlässt die Nato - und beide, das Land selbst und das geschrumpfte Bündnis, müssen sich in einer neuen Welt zurecht finden. In der Studie "Während wir planten" spinnen die Autoren die Jubiläumsüberraschung noch weiter.

Am Tag nach dem Gipfel erläutert Erdoğan in einem CNN-Interview seine Beweggründe: Die Bündnispartner würdigten die Leistungen der Türkei nicht genug, mischten sich in innertürkische Angelegenheiten ein und ließen es an Engagement im Kampf gegen den Terror vermissen. Den letzten Anstoß habe der militärische Zusammenstoß zwischen der Türkei und den USA in Nordsyrien gegeben, bei dem im August 2018 türkische Soldaten ums Leben gekommen waren.

Am stärksten gelitten hat das türkisch-amerikanische Verhältnis

Noch ist das ein Gedankenspiel. Noch befinden wir uns nicht im Jahr 2019. Weder gab es direkte Gefechte zwischen türkischen und US-Soldaten, noch hat sich die Türkei aus der Nato verabschiedet. Im Moment wirkt es sogar so, als gehöre die Nato-Mitgliedschaft zu den stabileren Bindegliedern zwischen Ankara und dem Westen. Stabiler jedenfalls als die vage Aussicht auf einen EU-Beitritt, an den wohl niemand mehr glaubt. Abwegig ist das Szenario trotzdem nicht.

Die Prozesse, die den SWP-Autoren zufolge im Ausscheiden der Türkei gipfeln könnten, sind längst im Gange. Die Entfremdung wächst. Die türkische Regierung fühlt sich vom Westen bedroht, seit den Gezi-Protesten 2013, als es in Westeuropa und den USA viel Sympathie für die Demonstranten gab, vor allem aber seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer 2016. Damals bekundeten viele westliche Regierungen nur zögerlich ihre Solidarität - was in Ankara den Eindruck erweckte, der Westen sympathisiere mit den Putschisten.

Das Misstrauen wird dadurch verstärkt, dass der angebliche Drahtzieher des Putsches, der islamische Prediger Fethullah Gülen, in den USA lebt, und die US-Behörden bisher keine Anstalten machen, ihn auszuliefern. Auch Deutschland und andere europäische Länder gewähren Asyl für Diplomaten und Offiziere, die in der Türkei als Putschisten gelten. Für die türkische Regierung ist die Haltung des Westens empörend.

Am stärksten gelitten hat das türkisch-amerikanische Verhältnis. Neben Gülen ist Syrien größter Streitpunkt. Washington unterstützt die syrische Kurdenmiliz YPG mit Waffen und Logistik, aus US-Sicht sind die Kurden schlagkräftige Verbündete gegen die Terrormiliz IS. Für Ankara ist die YPG ein Ableger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deshalb eine Terrororganisation, die es um jeden Preis zu bekämpfen gilt. Kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen sind für die Türkei seit je ein Albtraum; das Erstarken der Kurden in Nordsyrien hat diese Ängste verstärkt.

Erdoğan ist mit seinem Misstrauen gegen den Westen nicht allein

Dass die USA, ein Nato-Partner, mit der YPG, einem "Feind" des türkischen Staates, gemeinsame Sache machen, empfindet man in Ankara als Frontalangriff auf die nationale Integrität. Auf allen Seiten wächst die Nervosität, dass Erdoğan seine Truppen von Afrin weiter in Richtung der von Kurden gehaltenen Stadt Manbidsch schicken könnte. Dort sind auch US-Truppen stationiert, es könnte zum gefürchteten Zusammenstoß kommen. Solch ein Vorfall würde die Nato tatsächlich in eine schwere Krise stürzen.

Das Austrittsszenario basiert auf der Annahme, dass die jetzige Führung an der Macht bleibt, also Erdoğan und seine AKP die vorgezogenen Neuwahlen gewinnen. Wie sich die Krise mit dem Westen entwickeln würde, wenn Oppositionskräfte an die Regierung kämen, ist ungewiss. Klar ist aber, dass Erdoğan mit seinem Misstrauen gegen den Westen nicht allein ist. Die SWP-Studie zitiert Umfragen von 2017, wonach 72 Prozent der Türken die USA als größte Gefahr ansehen; vor vier Jahren waren es 44 Prozent. Die Nato kommt nur noch auf eine Zustimmung von 23 Prozent.

Die Türkei ist seit 1952 Nato-Mitglied, fast seit der ersten Stunde. Über Jahrzehnte gewachsene Strukturen lassen sich nicht schnell auflösen. Allerdings feilt Ankara schon länger an Alternativen. Vor allem Russland ist als neuer strategischer Partner ins Spiel gekommen. Während die Ziele der Türkei und der USA im Nahen Osten immer mehr auseinanderdriften, bemüht sich Ankara um Abstimmung mit Moskau. Zudem bauen beide Staaten ihre Kooperation in der Energieversorgung und der Verteidigung aus. Empörung hat Ankaras Beschluss ausgelöst, das russische Raketenabwehrsystem S-400 zu kaufen. Viele sehen darin eine strategische Neuausrichtung. Zur "Wartung und Bedienung eines für die Sicherheit des Landes zentralen Systems", heißt es in der SWP-Studie, wird künftig "eine größere Zahl russischer Offiziere dauerhaft in der Türkei stationiert sein". Eine beunruhigende Aussicht für die Nato.

Auch dass die türkische Regierung nach dem Putschversuch fast 25 000 Militärangehörige entlassen hat, wird mit Sorge gesehen. Nicht nur fehlt deren Know-how. Unter den Entlassenen waren neben Gülen-Anhängern auch viele sogenannte Atlantiker, die im Westen ausgebildet wurden und dem Bündnis positiv gegenüberstehen. Auch wenn die Türkei in der Nato bleibt - die politische wie operative Zusammenarbeit dürfte schwerer werden.

Ein Ausscheiden der Türkei wäre für die Nato ein herber Schlag. Noch nie ist ein Land aus dem Bündnis ausgetreten - ein Präzedenzfall wie der Brexit für die EU. Er würde die Nato in einer Zeit schwächen, die von großer Unsicherheit geprägt ist. Auch operativ, so die SWP-Experten, hätte ein Austritt gravierende Folgen. Geostrategisch sei die Türkei von "unschätzbarer Bedeutung". Zahlreiche Nato-Einrichtungen befinden sich auf türkischem Boden.

Die Türkei ist an laufenden Nato-Operationen beteiligt, etwa an "Resolute Support" in Afghanistan; ihre Kontingente müssten ersetzt werden.

Auch finanziell würde ihr Austritt ein Loch reißen, das andere Mitglieder stopfen müssten. Nicht zuletzt würde das "antiwestliche Lager politisch" gestärkt, konstatieren die Autoren. Die Türkei würde noch näher an Russland rücken; wirtschaftlich könnte sie stärker die Nähe zu China und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit suchen.

So muss es nicht kommen, betonen die SWP-Experten. Trotzdem geben sie vorsorgliche Empfehlungen ab: Die Allianz sollte darauf hinwirken, das Austrittsszenario zu verhindern. Sollte es doch zum Äußersten kommen, müssten neue Wege gefunden werden, die Türkei institutionell zu binden. Wie auch immer das aussehen mag - für die Türkei und die Nato wäre es ein Einschnitt mit unabsehbaren Folgen.

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