Süddeutsche Zeitung

Bündnispartner:Die Türkei als Verbündete steht infrage - Zeit für eine Mahnung

Die türkische Regierung agiert schrill und unberechenbar gegenüber ihren Verbündeten. Doch die Türkei kann nicht mehr nur von ihrer geopolitischen Bedeutung zehren.

Kommentar von Stefan Kornelius

Wäre die Türkei kein Nato-Mitglied, sie würde es heute nur schwerlich werden. Führte sie nicht bereits Beitrittsgespräche mit der EU, niemand käme auf die Idee, diese Konsultationen zu beginnen. Die Türkei ist ein geografischer Glücksfall, was ihr eine enorme Narrenfreiheit bei der Wahl ihrer Freunde verschafft hat und viel Nachsicht bei politischen Eskapaden garantiert. Denn nach wie vor gilt: Die Türkei mag Partner in der Welt brauchen, aber viel mehr noch brauchen diese Partner die Türkei.

Dieses Missverhältnis bei der Verteilung der Kräfte wird nach dem Putschversuch besonders sichtbar. Als die Nato Ende der Neunzigerjahre und zu Beginn des Jahrtausends neue Mitglieder aufnahm, war zwingende Voraussetzung die Entflechtung militärischer und politischer Strukturen. Der Reformdruck lastete schwer auf den früheren Staaten des Warschauer Pakts, wo es zuvor noch selbstverständlich war, dass ein Militärmitglied eben auch ein Verteidigungsministerium führte.

Die Türkei ist seit 1952 Teil des Militärbündnisses. Immer war ihre geografische Relevanz an der Nahtstelle zu Nahost und zur früheren Sowjetunion wichtiger als die inneren Zustände. Vier Militärputsche und eine unblutige Intervention blieben folgenlos oder wurden gar in stillem Einvernehmen mit dem Westen abgewickelt. Heute erlebt die Türkei gleichzeitig massive Eingriffe in die Meinungsfreiheit, Enteignungen und einen beispiellosen Angriff auf die Justiz - doch selbst die EU wagt nicht, das Dogma von der überwältigenden Bedeutung des Landes anzutasten.

Dem Coup folgt eine neue Welle innerer Repression

Die Situation könnte skurriler nicht sein: Selbstverständlich verurteilt eine deutsche Kanzlerin oder ein amerikanischer Präsident den Militärcoup, weil selbstverständlich die Demokratie in der Türkei nicht von ein paar Obristen oder Generälen gesteuert werden kann. Das immerhin ist ein Fortschritt gegenüber alten Tagen, als der Putsch noch als Werkzeug der Wahl Unterstützung fand. Nun aber folgt dem Coup eine neue Welle innerer Repression, was die Bündnisfähigkeit der Türkei nicht minder infrage stellt.

Zweifellos: Die Drahtzieher dieser dilettantischen Aktion gehören vor Gericht. Die Entlassungswelle in der Justiz und der geradezu willkürliche Umgang mit dem Militär auch vor dem Putsch erlauben indes höchste Zweifel, ob der Anlass auch alle Mittel heiligt. Die jetzt schon absehbare Unverhältnismäßigkeit gipfelt in der Drohung von Premierminister Binali Yıldırım, man betrachte sich mit jedem Land im Kriegszustand, das an der Seite des Predigers Fethullah Gülen stehe. Müssen sich die USA nun ernsthaft Sorgen machen?

Die türkische Regierung und ihr Präsident agieren schrill und unberechenbar gegenüber ihren Verbündeten. Sie lassen wissen, dass man die Zahl der Flüchtlinge dosieren könne wie den Wasserfluss aus dem Hahn. Sie drohen indirekt mit Destabilisierung. Ihr Verhältnis zum sogenannten Islamischen Staat ist zumindest ungeklärt. Sie spielen mit dem eigenen Militär in politischer Absicht.

Ein Präsident, der die Demokratie einmal mit einem Bus verglich

All dies darf und kann keinen Putsch rechtfertigen. Aber es zwingt zur Klärung des Umgangs mit diesem unsicheren Kantonisten. Was also tun mit einem Präsidenten, der die Demokratie einmal mit einem Bus verglich, den man als Transportmittel brauche - aus dem man am Ziel aber wieder aussteigen könne? Was also, wenn der Putsch als Verzweiflungstat einiger Kemalisten das Erdoğan-Lager seinem eigentlichen Ziel nur näher brachte und die Türkei vollends abrutscht in einen religiösen Autoritarismus?

Offenbar ist Erdoğan mit Argumenten nur schwer verständlich zu machen, dass die Türkei vom Westen nicht weniger abhängig ist als dieser Westen von ihr. Der Investitionsfluss, der Bauboom, der Tourismus, die Erfolgsgeschichte des neuen türkischen Mittelstandes und seiner im Westen ausgebildeten Kinder - all das beruht auf der Ausrichtung des Landes als mäßig religiöse, aber moderne, aufgeklärte Nation. Das andere Extrem wäre dies: ein autoritärer, religiös intoleranter, von Schleusern korrumpierter Unrechtsstaat. Bedauerlicherweise wird der Putsch nicht dazu beitragen, den Präsidenten für die Alternative zu sensibilisieren.

Wenn die Opposition zu schwach, die Medien geknebelt, die Wirtschaftselite verängstigt und das Militär glücklicherweise zurück in den Kasernen ist, dann muss ein anderer die türkische Regierung auf Grenzen aufmerksam machen. Erdoğan und die Seinen sind nicht zimperlich bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Es wird also Zeit, erheblich deutlicher als bisher die Interessen auch der türkischen Bündnispartner zu benennen. Dabei geht es um Werte und Prinzipien des Rechtsstaates - so abstrakt es sich anfühlen mag. Die Freiheit zu einer Reise ohne Visum gehört dazu, oder der Wohlstand, der durch den freien Handel erworben wird.

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SZ vom 18.07.2016/dayk
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