Buchpräsentation:Sarrazin, Hartz IV und Verhaltensarmut

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Die Journalistin Ulrike Herrmann will ihr Buch über die Mittelschicht vorstellen. Doch Thilo Sarrazin übernimmt die Sache.

Cornelius Pollmer, Berlin

Diese Schlange ist beeindruckend: 500 Menschen warten vor einer Kellertreppe im Berliner Kulturkaufhaus Dussmann, einige von ihnen seit einer Dreiviertelstunde. Wer die Plakate am Eingang übersehen hat, könnte glauben, hier würde ein neuer Harry-Potter-Band vom Stapel gelassen. Stattdessen spricht wenig später - der Keller ist längst mit Menschen besetzt - eine junge Frau etwas zu aufgeregt in ein Mikro.

Sie, die Besucher, seien sicher froh, "ihn mal wieder live zu erleben". Er war mal hier in der Hauptstadt als Finanzsenator eine große Nummer. Nun ist Thilo Sarrazin Vorstand der Deutschen Bundesbank und noch immer Mitglied der SPD.

Sarrazin und seine Sprüche

Der Ökonom hat in der jüngeren Vergangenheit viele Dinge gesagt, die, so heißt es dann immer, polarisiert haben. Wer bei Google "Sarrazin" eingibt, bekommt als weiteren Suchbegriff sogleich "Sprüche" vorgeschlagen und so liest sich das dann: Eine große Zahl der Araber und Türken in Deutschland habe lediglich für den Gemüsehandel eine produktive Funktion, sie würden ständig neue Kopftuchmädchen produzieren und wer in Deutschland Hartz IV beziehe, der könne doch kalt statt warm duschen und auf diese Weise Stütze sparen.

So recht weiß man nicht, ob die Leute an diesem Donnerstag Zuhörer oder Gaffer sind, ob sie wegen des Geifers gekommen sind oder wegen des Gesprächs. Präziser: des "Streitgesprächs", so ist es angekündigt. Wobei die Frage berechtigt ist, ob dieser Begriff nicht ein weißer Schimmel auf grünem Rasen ist und inzwischen jedes öffentliche Gespräch mit Thilo Sarrazin zum Streit führt.

Zu einem Streitgespräch gehören mindestens zwei, das droht an diesem Abend bisweilen in Vergessenheit zu geraten. Irgendjemand besaß sogar die - freilich nachvollziehbare - Dreistigkeit, den Namen Sarrazin auf dem Veranstaltungsplakat über den der eigentlichen Protagonistin zu setzen: Ulrike Herrmann, Redakteurin der Tageszeitung.

Sie hat ein Buch geschrieben*: Hurra, wir dürfen zahlen soll vom "Selbstbetrug der Mittelschicht" künden, es soll - im Idealfall - nach der Unterschichtendebatte nun zu einem Diskurs über die Mitte der Gesellschaft anregen.

Herrmann schreibt, dass die Mittelschicht zwar die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben finanziere, dass von Steuererleichterungen aber stets nur die Oberschicht profitiere. Die Frage sei: Warum macht die Mittelschicht das mit? "Weil sie sich für reicher hält, als sie ist. Weil sie sich von der Unterschicht ausgebeutet fühlt, in Wahrheit aber von der Oberschicht ausgebeutet wird", sagt Herrmann. Das Schlimme daran sei, dass die Mittelschicht sich ihrer Rolle als Zahlmeister gar nicht bewusst sei. Erheblichen Anteil daran habe die Oberschicht, weil sie der Mittelschicht das Gefühl gebe, zur Oberschicht zu gehören. "Die Reichen rechnen sich arm, während die Armen reich gerechnet werden", sagt Herrmann.

Die Thesen von Herrmann sind diskussionswürdig, mindestens. Doch es kommt zu keiner rechten Diskussion an diesem Abend, was mehrere Gründe hat.

Sarrazin und Herrmann sind meistens einer Meinung, was das Streitgespräch auch trotz der Mühe von Moderator Wolfgang Herles zum Gespräch macht. Zweitens wird es bisweilen recht technisch, wenn Herrmann und Sarrazin erörtern, wer warum Ober-, Mittel-, Unterschicht ist. Dieser Schichtsalat würde kein Problem darstellen, wenn - drittens - das Publikum nicht auf der Lauer läge, um Szenenbeifall und Szenenempörung loszuwerden. Herrmann schwimmt ein bisschen vor Aufregung. Einmal will sie sagen, dass ein Ostdeutscher im Schnitt eher Gefahr laufe, Hartz IV beziehen zu müssen als ein Westdeutscher. Stattdessen sagt sie sinngemäß: Jeder Ossi bezieht Hartz IV. Ein paar bekommen das in den falschen Hals.

Das ist wohl der Unterschied: Herrmann formuliert an diesem Abend - anders als in ihrem Buch - gelegentlich unsauber, Sarrazin spitzt zu. Es gebe, sagt er, keine materielle Armut der Hartz-IV-Empfänger, lediglich eine "Bildungs-, Bewegungs- und Verhaltensarmut". Weil Sarrazin weiß und sagt, dass öffentliche Diskussionen anschaulich geführt würden, legt er ein Beispiel nach: In 45 Prozent der Kinderzimmer im sozial schwachen Wedding stehe ein Fernseher, in Charlottenburg seien es nur knapp fünf Prozent. "Selbst wenn ein Fernseher billig ist, kostet es nicht mehr, ihn aus dem Kinderzimmer herauszunehmen."

Kurzum: Viele Dinge, die die Gesellschaft der Armut zuschreibe, hingen in Wahrheit am individuellen Verhalten. "Menschen können es vielleicht nicht ändern, dass sie keine Arbeit haben, aber sie können entscheiden, ob sie morgens im Bett liegen bleiben oder aufstehen und ihren Kindern ein Schulbrot machen", sagt Sarrazin.

Diese Zuspitzungen sind es, die nachhallen und die auch zeigen, dass Thilo Sarrazin für Ulrike Herrmann an diesem Abend Glück und Fluch zugleich ist. Er ist ein Glück, weil er Publikum zieht. Er ist ein Fluch, weil er auch die Aufmerksamkeit zieht - allerdings mehr auf sich als auf das Buch der taz-Autorin Herrmann.

* Ulrike Herrmann: "Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht". Westend Verlag, Frankfurt am Main; 224 Seiten; 16,95 Euro.

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