Süddeutsche Zeitung

Buchmesse:Literatur live

Immer mehr Menschen möchten Buchautoren zuhören.

Von Lothar Müller

Warme Kleidung wurde empfohlen, als in der vergangenen Woche der Schauspieler Klaus Maria Brandauer im Kölner Dom die wenig kirchenfreundliche Fantasie "Der Großinquisitor" aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" vortrug. Die seit Langem ausverkaufte Lesung vor knapp 2000 Zuhörern war der Auftakt zur diesjährigen Lit.Cologne, der 18. Auflage des Internationalen Literaturfestivals.

In dieser Woche wird am Mittwochabend die Leipziger Buchmesse eröffnet. Sie ist, anders als die Frankfurter Buchmesse, weniger ein Ort des Handelns und Feilschens mit Lizenzen als ein großes Lesefest. Es findet nicht nur in den Messehallen statt, sondern unter dem Motto "Leipzig liest" an mehr als 500 Orten in der Stadt und um sie herum, von A wie Apothekenmuseum oder Anwaltskanzlei bis Z wie Zeitgeschichtliches Forum oder Zoo. Hier wie dort, in Leipzig wie in Köln, zeigt sich, wie sehr in Deutschland die Literatur den öffentlichen Auftritt sucht, das Gegenüber zur Lektüre im privaten Raum. Dort ist der Autor abwesend, während das Auge des Lesers dem Zeilenband auf der Buchseite folgt. Hier, auf den großen und kleinen Bühnen der Buchhandlungen, Kirchen, Theater, ist er anwesend und adressiert entweder selbst oder durch die Stimme eines Schauspielers seinen Text an die Ohren des Publikums.

Dieses Gegenüber von Auge und Ohr hat eine archaische und eine sehr moderne Dimension. Die Poesie, die großen alten Versepen waren zunächst mit der Mündlichkeit im Bunde, ehe sie mit der Schrift verschmolzen. Je mehr die Schrift sich ausbreitete, desto mehr konnte es scheinen, als verschwänden die Stimmen zugunsten des stummen Umblätterns der Seiten eines Buches. Aber dieser Schein trog. Je umfassender sich die moderne Literatur entfaltete, desto unüberhörbarer schwoll das Stimmengewirr an, von dem sie begleitet war, in den privaten Salons, in den Lesekabinetten, in denen Zeitungsartikel heftige Debatten auslösten, in den Vortragssälen des 20. Jahrhunderts, in denen Rezitatoren Prosa und Lyrik der Gegenwart mit Bibeltexten mischten.

Derzeit gehört die akustische Dimension der Literatur zu ihren Energiezentren. Wie in der Musikbranche die Perfektionierung der Speicher- und Distributionsmedien das Livekonzert gerade nicht obsolet gemacht hat, sondern beflügelt, gehört der Live-Auftritt der Autoren zu den boomenden Formaten der Buchbranche. Zur Lesung gehört das - meist moderierte - Parlieren über das eigene Buch, das eigene Schreiben. Nicht jeder Autor kann das gleich gut und mag das gleich gern, nicht jeder ist der beste Leser seiner eigenen Texte. Aber Lesereisen sind nicht nur anstrengend, sie sind wichtige Elemente in der Vermarktung der Literatur.

Nach Lesungen mit Weltstars wie T. C. Boyle, die den Live-Auftritt perfekt beherrschen, bilden sich Schlangen vor den Büchertischen. Das hat einen atmosphärischen und einen magischen Grund. Der atmosphärische besteht in dem Wunsch, der live erlebten Lust am Text im Buch einen dauerhaften Echoraum zu verschaffen. Der magische Grund besteht in dem Wunsch, eine Spur der physischen Präsenz des Autors mit nach Hause zu nehmen. Das vom Autor signierte Buch ist diese Spur.

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Quelle:
SZ vom 12.03.2018
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