Buch über den Juli 1914:Weltkrieg als Notlösung

Deutsche Truppen im Schützengraben bei den Winterkämpfen in Ostpreußen 1914/15

Erschöpfte deutsche Soldaten im Schützengraben nach der Schlacht bei Darkehmen während der Winterkämpfe 1914/15 in Ostpreußen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Angenehm nüchtern und schlank kommt Gerd Krumeichs Buch zum Kriegsausbruch 1914 daher. Eine Bilanz, nennt es der Historiker. Doch es geht auch um die Frage nach der Kriegsschuld.

Von Rainer Stephan

Ein großer Krieg produziert auch große Bücher. Und nicht erst dann, wenn er hundert Jahre her ist: Gerd Krumeich weist in seinem Buch über den Juli 1914 auf die schon während des Ersten Weltkriegs einsetzende Flut von Dokumentationen und Studien vor allem zur Vorgeschichte dieses Kriegs hin.

Und wenn er anmerkt, im Grunde sei die Quellenbasis seit dieser "allerersten Phase der Aufarbeitung des Juli 14 nahezu dieselbe geblieben", meint man hinter der Lakonie seiner Feststellung auch so etwas wie sanften Spott über den Gestus der Bedeutungsschwere zu spüren, mit dem die breite Vermarktung des Themas aktuell betrieben wird.

Dazu passt, dass bislang mindestens vier der in den letzten Monaten erschienen Bücher den gleichen Titel tragen, "Der Große Krieg"- darunter machen sie's nicht. Im Vergleich dazu präsentiert sich Krumeichs angenehm schlankes Buch ganz nüchtern: "Juli 1914. Eine Bilanz".

Die Akteure konnten sich nicht vorstellen, wie der Krieg sein würde

Allerdings ist der Titel doppeldeutig: Bilanziert werden hier nicht nur die hektischen Aktivitäten vor dem Kriegsausbruch, sondern auch deren historische und publizistische Interpretationen.

Krumeich beschreibt seinen (wie jeden) Bilanzierungsversuch als eine angesichts von einigen zehntausend Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg paradoxe Aufgabe, zeigt aber andererseits, mit deutlichem Seitenhieb auf die Zitierpraxis der Konkurrenz, wie sich jenes Paradox überwinden lässt: "Die Summa der historiographischen Bemühungen waren die drei Bände des italienischen Journalisten Luigi Albertini, die erst 1952 in englischer Sprache erschienen und seitdem das - oft nicht zugegebene - Daten- und Argumentationsgerüst der Forschung bilden."

Dem Leser, der jenes Kompendium ja eher nicht im Regal stehen hat, gibt Krumeich sozusagen einen Mini-Albertini zur Hand: Für den Anhang seines Buchs stellte er auf knapp 140 Seiten 50 Schlüsseldokumente zusammen, die den fatalen Weg in den Krieg ebenso erfahrbar machen wie die mentale und intellektuelle Verfasstheit der damaligen Hauptakteure.

Gerade diesen individuellen Zügen, den Intentionen, Erwartungen, auch der möglicherweise beschränkte Phantasie der im Juli 1914 tonangebenden Staatsmänner und Militärs gilt Krumeichs besonderes Interesse. Auch dabei verweist er auf die Vorarbeiten anderer, so auf den englischen Historiker James Joll und seine schon 1968 gestellte Frage "nach den unspoken assumptions - den Denkvoraussetzungen - jener, die in der Julikrise agiert haben" und auf die "bahnbrechende" Arbeit Wolfgang Mommsens über den ,Topos vom unvermeidlichen Krieg'."

Wenn es ein "Vermächtnis" seines Lehrers und Freundes Mommsen gebe, "das ich in diesem Buch weitertragen möchte, dann ist es die These, dass diejenigen, die im Juli 1914 handelten, bei allen düsteren Vorahnungen doch keine Vorstellung davon hatten, wie sich der Krieg in kurzer Frist entwickeln sollte."

"Schlafwandler" agieren - kann man dann noch von Schuld und Verantwortung reden?

Damit scheint Krumeich dem Bild sehr nahe zu kommen, das Christopher Clark schon im Titel seiner Darstellung des Kriegsausbruchs entwirft: "Die Schlafwandler." Nur, wenn Schlafwandler agieren - welchen Sinn macht es dann noch, in Kategorien wie vermeidbar zu denken? Oder gar, nach Schuld und Verantwortung zu fragen?

Nun sind Krumeich und, cum grano salis, auch Clark weit entfernt von der Behauptung, die Nationen und ihre Anführer seien damals mehr oder weniges aus Versehen in den Krieg hineingestolpert, weswegen die Frage nach der Schuld am Kriegsausbruch letzten Endes gar nicht gestellt werden dürfe.

Der Verdacht liegt dennoch nahe, dass Clarks Buch auch deswegen seit Monaten auf der Bestsellerliste steht, weil es die Deutschen endgültig vom Vorwurf der alleinigen Kriegsschuld befreit, der ja nicht nur 1918 im Vertrag von Versailles fixiert worden war, sondern den auch der Historiker Fritz Fischer 1961 in seinem Buch "Griff nach der Weltmacht" erhob.

Bemühungen, die Krise nicht ausufern zu lassen

1961: Das Datum, so Krumeich, spielt durchaus eine Rolle: "Es war die Zeit der Auschwitz-Prozesse, und die jungen Menschen von damals ließen sich nicht mit der Betriebsunfall-These abspeisen. Eine Analyse von Verantwortlichkeiten und Kontinuitäten war gefragt, weil es ja noch galt, acht zu geben, damit sich die Barbarei nicht wiederhole."

Diesen jungen Leuten gegenüber standen viele noch lebende Zeitgenossen des Ersten Weltkriegs, denen es "darum ging, ihre Erinnerung an die ,Große Zeit', an Opferbereitschaft und Enthusiasmus des August 1914 zu bewahren."

Anders gesagt: Der Eklat, den Fritz Fischer auslöste, steht im Kontext jener moralischen Sicht auf die Politik, die dann in die 68er-Bewegung einmündete. In der wissenschaftlichen Welt gilt der Streit um Fischers These vom deutschen Kaiserreich als weltmachtbegierigem Aggressor längst als überwunden. Doch nach wie vor beunruhigend wirkt die Frage, ob es überhaupt moralische Politik geben kann, oder wie Politik sonst ihrer Verantwortung gerecht werden könnte.

Eben dieser Frage nähert sich Krumeich, indem er ein besonderes Augenmerk auf die Bemühungen wirft, den nach Sarajewo nicht mehr beizulegenden österreichisch-serbischen Konflikt zu lokalisieren, das heißt - inzwischen denkt man als Leser natürlich an die Ukraine - zu verhindern, dass ein regionaler Konflikt zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den über Bündnissysteme involvierten Großmächten führt.

Es gab damals eine Reihe solcher Lokalisierungsbemühungen, vor allem auf deutscher Seite. Nur, auch solche Bemühungen waren selbstverständlich interessegeleitet: Von einem militärischen Sieg Österreichs über Serbien hätte letztendlich Deutschland profitiert.

Scheitern aber, und das zeigt Krumeich deutlich, musste die Lokalisierungspolitik schon deswegen, weil sie den Krieg als ultima ratio, als Notlösung, eben nicht ausschloss. Dass es weniger Weltmachtstreben als vielmehr die Angst vor einem militärisch immer stärkenden Russland war, aus der sich die deutsche Position - "Wenn schon Krieg, dann lieber jetzt als später!" - speiste, macht die Frage keineswegs überflüssig, ob sich eine dieser Losung folgende Politik verantwortbar war.

Krumeichs Buch lässt keinen Zweifel: Sie war es nicht.

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