Buch über den Ersten Weltkrieg:Triumphe der Gewalt

Kaiser Wilhelm II. als Jäger

Kaiser Wilhelm II. posiert mit zwei erlegten Hirschen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Ein Berliner Journalist, dessen warnender Leitartikel nicht gedruckt wurde. Ein Kaiser, der sich ums Jagdrevier sorgte, als sein Volk hungerte. Jörn Leonhard zeigt in seinem Buch "Die Büchse der Pandora" ein großes Panorama des Ersten Weltkrieges.

Von Jens Bisky

Die Berliner Morgenpost wollte Ende Juli 1914 einen Leitartikel bringen, in dem ihr langjähriger Mitarbeiter Arthur Bernstein die "Kriegshetzer" warnte: Sie verrechneten sich, gingen ihren Illusionen auf den Leim. Italien, schrieb er, würde Deutschland nicht beistehen, wenn es überhaupt mitmachen würde, dann auf der Seite der Entente. Schlimmer noch: England werde nicht neutral bleiben, einen Durchmarsch deutscher Truppen durch Belgien auf keinen Fall dulden.

Damit hätte man dann die "ganze englische Welt" gegen sich, besonders Amerika. Von Österreich-Ungarn sei weder militärisch noch wirtschaftlich viel zu erhoffen, es sei kaum den Serben und Rumänen gewachsen. Eine russische Revolution sei erst nach der Niederlage Russlands zu erwarten. Ein deutscher Sieg sei ungewiss: "Aber selbst wenn wir den Krieg gewinnen, so werden wir nichts gewinnen."

Bernsteins Artikel "Die letzte Warnung" wurde gesetzt, aber nicht gedruckt. Er schien nicht mehr opportun. Seine Analyse traf zu, weil er gut informiert und nicht im Wahnsystem der Diplomaten, Generalstäbler und sonstigen "Schlafwandler" befangen war.

"Große gesegnete kommende Zeit"

Im September 1914 schrieb die Stettiner Hausbesitzerin Redepenning ihren Mietern einen Brief: "Die gewaltige Wendung, die durch die Gnade des Allmächtigen Gottes unsere durch seine Macht und Kraft bewaffneten Truppen uns errungen haben, lassen uns in eine große gesegnete kommende Zeit blicken. (...) Ihre Wohnung kostet vom 1. Oktober ab 30 Mark mehr."

Den Mietern standen nach diesem verspäteten "Augusterlebnis" Jahre voller Todesnachrichten, Hunger, der Zusammenbruch ihrer gewohnten Welt bevor. Die dreißig, mit Gnade des Allmächtigen abverlangten Mark waren im Rückblick wohl das kleinste Übel, aber ein erstes Zeichen.

Als im November 1916 der Steckrübenwinter begann, plagten den deutschen Kaiser Wilhelm II. Sorgen um sein Lieblingsjagdrevier in Ostpreußen. Einen Bericht über den Hirschbestand in Rominten las er vor der Mittagstafel vor, der eifrige Forstmeister plante, Mohrrüben für die Wildfütterung aufzukaufen. Es würde die Geweihbildung verbessern. An Hunger, an Folgen des Mangels, der ständigen Unterversorgung starben im Reich Wilhelms II. etwa 700.000 Menschen.

Aufschlussreiche Details wie diese, Anekdoten, Fotografien, Tagebücher und Briefe hat der Freiburger Historiker Jörn Leonhard für seine "Geschichte des Ersten Weltkriegs" en masse zusammengetragen. Er beginnt mit den Kindern der Familie Mann, die am Samstag, den 1. August 1914 "Die Büchse der Pandora" probten, nach Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums.

Es muss vergnüglich zugegangen sein im Garten des Ferienhauses, bis das Kindermädchen die Generalprobe unterbrach, man könne heute nicht Theater spielen, der Krieg sei ausgebrochen. Das "Elend in allen Gestalten", die in Pandoras Büchse verschlossen waren, beherrschte fortan die reale Welt.

Der Leser merkt sich Geschichten und Einzelheiten, weil Jörn Leonhard sein Panorama des Großen Krieges klug geordnet hat. Der analytische Rahmen ist plausibel. Nach einem langen Kapitel über die "Welt von Gestern" und die Zunahme von Krisen schreitet Leonhard Jahr für Jahr ab: Sommer und Herbst 1914 behandelt er unter den Schlagworten "Entgleisung und Eskalation", dann folgen: "Stillstand und Bewegung: 1915", "Abnutzen und Durchhalten: 1916", "Expansion und Erosion: 1917", "Plötzlichkeit und Zerfall: 1918". Jedes Kapitel endet mit einer deutenden Zusammenfassung: "Fünf Monate Krieg", "17 Monate Krieg" und so weiter.

Diese kompositorische Entscheidung hat den Nachteil, die Darstellung zu verlangsamen. Temperamentvolle Leser dürften auf den ersten hundert Seiten unruhig mit den Füßen scharren. Es dauert, bis die ersten Schüsse fallen. Doch wird man durch Erkenntnisgewinn entschädigt. So genau wie hier ist die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" bisher nicht in ihre Elemente und Momente zerlegt worden.

Wie die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts im und durch den Krieg sich wandelte, warum das "Jahrhundert der Extreme" als Kind des Krieges gelten kann, analysiert Leonhard kühl und mit dem Willen, nicht alles über einen Kamm zu scheren. Auch die Kontroversen über den Krieg, die verschiedenen Formen, an ihn zu erinnern, werden aus der historischen Distanz betrachtet. Die leidige Diskussion über die Kriegsschuld etwa wendet Leonhard in die Frage, wer im Juli 1914 hätte deeskalieren können und warum dies nicht gelang.

Vor allem widmet er sich der viel interessanteren Frage, wie Loyalität erzeugt, gesichert, erhalten wurde und warum sie schließlich erodierte. Die Helden seiner Geschichte, die von Jahr zu Jahr einen stärkeren Sog entwickelt, sind die Kriegsgesellschaften - im Zusammenspiel von Eliten und Massen, von Front und Heimat.

Geschildert wird wirklich der Weltkrieg. Im Jahr 1916 etwa waren, so Leonhard, die Kämpfe an der Ostfront wichtiger als die im Westen. Die Brussilow-Offensive brachte den Alliierten den bedeutendsten Geländegewinn seit Beginn des Krieges, die Verluste auf beiden Seiten waren größer als die der Schlachten von Verdun und an der Somme, Österreich-Ungarn musste fortan deutsche Hilfe akzeptieren, einschließlich deutscher Kommandeure bis zur Bataillonsebene hinab.

Es ging nicht mehr um den Sieg, es ging ums Durchhalten

Der Krieg würde, so ließ sich schlussfolgern, nicht durch Durchbrüche auf den Schlachtfeldern und rasch gewonnene, rasch verlorene Geländegewinne entschieden werden. Es ging ums Durchhalten. Wer konnte die Abnutzung der Kräfte länger ertragen? Für Russland und die Habsburgermonarchie waren die "Ereignisse im Osten zwischen März und September 1916 eine entscheidende Wasserscheide". Wachsende Erschöpfung führte zur Erosion der militärischen Strukturen wie des politischen Systems. Pointiert: Ein Sieg so groß, dass er die Opfer und Verluste rechtfertigen, verlorene Legitimität wiederherstellen könnte, war unmöglich - und wurde doch erwartet. Radikalisierung schien unvermeidlich, der Liberalismus in den meisten Kriegsgesellschaften erledigt.

Es schlug die Stunde der Utopie-Strategen Wladimir Iljitsch Uljanow und Woodrow Wilson. Leonhard behandelt sie auf erhellende Weise zusammen: "Lenin und Wilson: Doppelter Internationalismus als revolutionärer Bürgerkrieg und demokratische Intervention." Die Konkurrenz beider Utopien sollte das zwanzigste Jahrhundert prägen. Seit 1917 zeichnete sich die "Totalisierung von Kriegsanstrengungen" als Möglichkeit ab, eine "totale Mobilisierung" von Militär, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Für neue Kriegsregime stehen die Namen Clemenceau, Lloyd George und Ludendorff.

Noch einmal funktionierte 1917 der "Mechanismus der paradoxen Selbstverlängerung des Krieges" - die Opfer verlangen einen Siegfrieden -, zugleich wurde deutlich, dass es nicht mehr lange so weitergehen könne: "Immer mehr ähnelten die Regime und Kriegsgesellschaften Häusern, von denen nach vier Jahren Krieg nur noch die äußeren Wände standen, und die beim nächsten Treffen komplett in sich zusammenfallen konnten."

Die Bewohner dieser entkernten Häuser verloren die Fähigkeit zum Frieden. Leonhard versteht es geschickt, Kontinuitäten aufzuzeigen, ohne die Zwangsläufigkeit der späteren Entwicklung zu behaupten. Der Sieger des 1914 begonnenen Krieges war, so sein Fazit, "der Krieg selbst, das Prinzip des Krieges, der totalisierbaren Gewalt als Möglichkeit" - und das heißt ja auch, nicht als Notwendigkeit. Das zehnte und letzte Kapitel resümiert die "Hypotheken" des jahrelangen Mobilisierens, Kämpfens, Schlachtens: eine neue Gewaltökonomie, in der große Zahlen und Abstraktionen vorherrschten, das Töten anonym geschah, der Gegner kein Gesicht besaß, die Todesdrohung permanent wurde.

Immer von Feinden umgeben

Nachdem immer weniger zwischen äußeren und inneren Feinden unterschieden worden war - man denke nur an den Völkermord an den Armeniern, an Internierungen, Ausgrenzungen -, nachdem es zur Gewohnheit wurde, sich von Feinden umgeben zu fühlen, schien Selbsthilfe durch Gewalt ein probates Mittel. Die staatliche Bürokratie gewann an Macht und wurde mit immer neuen Aufgaben konfrontiert. Überkommene Ordnungsvorstellungen schienen obsolet.

Erwartungen und Erfahrungen traten auseinander. In Osteuropa hinterließ der Krieg Zonen der Gewalt. Da dort auch lange nach dem November 1918 weiter gekämpft wurde, Bürgerkriege, Säuberungen und Staatsterrorismus aufeinander folgten, fehlen vielfach die in Westeuropa selbstverständlichen "Erinnerungsorte" an die Toten des Ersten Weltkriegs.

Jörn Leonhard scheut die Zuspitzung, er wägt die Argumente lieber ab, beruft sich auf das ständige Nebeneinander von Kontinuität und Diskontinuität. Beinahe zu skrupulös warnt er davor, den Krieg als "Block mit einem einfachen Schema des Vorher und Nachher" zu behandeln. Aber eben dank dieser reflektierten Zurückhaltung, im kühnen Nebeneinander von Kultur- und Militärgeschichte, von Wirtschafts-, Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte ist ihm eine große Synthese gelungen, von der professionelle Historiker ebenso profitieren dürften wie historisch interessierte Zeitgenossen.

Ein "neuer stabiler Ordnungsrahmen" sei, sagt er, nach 1918 nicht zu erkennen gewesen, weder gesellschaftlich, noch politisch noch zwischen den Staaten. Seine "Büchse der Pandora" stellt nun einen so plausiblen wie flexiblen Rahmen bereit, um die Fülle des Wissens über den Großen Krieg zu ordnen. Ein Teil der Hypotheken ist bis heute nicht abgetragen. Wer in kommenden Jahren nach "Ur-Szenen" gegenwärtiger Konflikte sucht, an den Grenzen der Europäischen Union, im Nahen Osten, auf dem Balkan oder im Inneren der europäischen Gesellschaften, im Verhältnis zu den USA oder zu Russland, der wird nicht umhin kommen, dieses Buch zu befragen.

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