Buch der NSU-Opfer:"Ich will nicht ewig Opfer sein"

Angehörige von NSU-Opfern besuchen Rostock

Die Gedenktafel für Mehmet Turgut - eines der Opfer des NSU.

(Foto: dpa)

Vor drei Jahren flog durch die Selbstmorde von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die NSU-Mordserie auf. Hinterbliebene haben ein Buch darüber geschrieben, wie es sich anfühlt, als Täter und später als Opfer abgestempelt zu werden - und über ein Versprechen, das Angela Merkel nie eingehalten hat.

Von Luisa Seeling , Berlin

Es geht um die Opfer an diesem 4. November, nur um sie soll es gehen. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat viele hinterlassen; nicht nur die Toten, auch die Angehörigen sind Opfer des Terrors. Einige von ihnen haben gemeinsam ein Buch geschrieben, es heißt: "Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen".

Dass es an diesem Tag erscheint, ist kein Zufall. Vor genau drei Jahren wurden die Taten des NSU öffentlich bekannt. Bis zu einem Banküberfall am 4. November 2011 hielten sich die drei mutmaßlichen Neonazi-Terroristen Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe unbehelligt im Untergrund auf. Ihnen wird vorgeworfen, zehn Menschen ermordet zu haben. Die beiden Männer wurden nach dem Banküberfall in Eisenach tot in einem Wohnwagen gefunden. Zschäpe steht als einzige Überlebende in München vor Gericht.

Für die Hinterbliebenen ist das Auffliegen des NSU eine Zeitenwende. Jahrelang hatten die Behörden auch sie verdächtigt. Im Buch kommen die Söhne und Töchter der Ermordeten zu Wort, die Ehefrauen, im Fall der erschossenen Michèle Kiesewetter auch Freunde. Eine Vertreterin der Nebenklage im NSU-Prozess und ein Mitglied des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag haben Texte beigesteuert. Wie ein roter Faden zieht sich das Ringen mit dem Opfer-Status durch das Buch. So heißt auch das Kapitel, in dem Gamze Kubaşık ihre Geschichte erzählt: "Ich will nicht ewig Opfer sein."

Gamze ist die Tochter von Mehmet Kubaşık, dem achten Opfer der NSU-Terrorserie. Am Vormittag des 4. April 2006 wurde Mehmet Kubaşık in seinem Dortmunder Kiosk mit vier Kopfschüssen getötet. Seine Tochter sitzt heute im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin, wo das Buch vorgestellt wird. Sie habe zwei Arten von Opfersein erlebt, erzählt sie. Bevor herauskam, dass der NSU hinter den Morden steckte - und danach.

Damals, als ihre Familie verdächtigt wurde, fühlte sie sich völlig alleingelassen. Heute sei das anders. Die Gesellschaft wisse nun, was geschehen sei. Seit sie 22 Jahre alt ist, habe sie nur an den Vater und die Umstände seines Todes gedacht. "Jetzt fange ich langsam an, nicht mehr nur Tochter zu sein. Ich fühle eine Last von meinen Schultern fallen und spüre: Ich habe eine Zukunft. Ich will wieder normal leben. Ich will nicht ewig Opfer sein."

Das Schlimmste ist die Ohnmacht

Herausgegeben hat den Band Barbara John, Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer der NSU-Morde. Seit 2012 kümmert sie sich mit großem Engagement um die Familien der Getöteten. An diesem Tag sitzt sie zwischen Gamze Kubaşık, Mustafa Turgut und Abdulkerim Şimşek und erklärt, warum sie den Titel des Buches "ein wenig rückwärtsgewandt" findet. Aus der Opferperspektive wolle man eigentlich raus, sagt sie. Einerseits.

Andererseits mussten die Angehörigen lange darum kämpfen, sich endlich als Opfer fühlen zu dürfen. Für John ist der entscheidende Unterschied: Opfer müssen sich handlungsfähig fühlen. Das Schlimmste ist die Ohnmacht.

Das zweite Thema an diesem Tag ist der Verlust von Vertrauen, in die Heimat, den Rechtsstaat. Abdulkerim Şimşek braucht deshalb Klarheit. Er will wissen, ob es weitere Hintermänner gab, die das NSU-Trio unterstützt haben. Warum sie sich seinen Vater ausgesucht haben, damals, am 9. November 2000. Der Münchner NSU-Prozess ist ihm sehr wichtig. Er hofft auf eine gerechte Strafe für Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte.

Enver Şimşek war - nach heutigem Kenntnisstand - das erste Mordopfer des NSU. Mit acht Schüssen wurde der Blumenhändler in einer Parkbucht bei Nürnberg regelrecht hingerichtet. Die Polizei verdächtigte zunächst die Ehefrau einer Eifersuchtstat, später hielten die Ermittler Streitigkeiten im Drogenmilieu für wahrscheinlich. Bis heute können alle, die dort auf dem Podium sitzen - Barbara John, die Angehörigen und die Bundestags-Vizepräsidentin Petra Pau (Linke), die zu Beginn der Veranstaltung ein paar Worte sagte - nicht fassen, dass die Polizei nie von einem rechtsextremen Hintergrund der Taten ausgegangen ist. Sondern das Umfeld der Toten verdächtigte.

Im Buch erklärt Abdulkerim Şimşek, dass er zu Deutschland gehört. "Nachdem die Mordserie aufgedeckt wurde, bin ich 2012 deutscher Staatsbürger geworden. Ganz bewusst." Er sei hier aufgewachsen, Deutschland sei genauso sein Land. "Ich bekenne mich zu diesem Land. Da gibt es kein Aber."

Merkel versprach "lückenlose Aufklärung"

Im Haus der Bundespressekonferenz erinnert er aber auch daran, dass Angela Merkel eine "lückenlose Aufklärung" versprochen habe. Ein Versprechen, das bisher nicht eingelöst worden sei. Die Bundeskanzlerin hat das Vorwort zum Buch verfasst. Das Leid der Opfer und der Schmerz der Angehörigen müssten eine stete Mahnung sein, fordert sie. "Wir müssen aufklären und vorbeugen. In Deutschland ist kein Platz für Rechtsextremismus, Rassismus und Hass." Das Versprechen, lückenlos aufzuklären, wiederholt sie nicht. Vielleicht ist sie vorsichtig geworden. Seit dem Auffliegen der Zwickauer Terrorzelle sind immer neue Details über das Versagen der Behörden ans Licht gekommen.

Abdulkerim Şimşek hat einen großen Wunsch: Er will irgendwann einmal seinen Kindern erklären können, was mit ihrem Opa geschehen ist. "Ich würde dafür sorgen, dass sie trotz allem ohne Hass aufwachsen. Aber ich möchte ihnen die Wahrheit erzählen können - die ganze."

Für Barbara John wären Untersuchungsausschüsse in den Bundesländern ein Schritt auf dem Weg zur ganzen Wahrheit. Sie kritisiert, dass die Politik die Funktionseliten nicht kontrollieren könne. Damit meint sie vor allem den Verfassungsschutz, der sich der Kontrolle durch die Politik entzieht. "Die Sache ist längst nicht abgeschlossen."

Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Herausgegeben von Barbara John in Zusammenarbeit mit Vera Gaserow und Taha Kahya. Verlag Herder, 2014.

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