Süddeutsche Zeitung

Terrorprozess in Belgien:Annäherung an die Hölle

Der Brüsseler Terrorprozess leistet eine bewegende Traumabewältigung - und wird doch immer wieder überlagert vom unwürdigen Streit über "Nacktuntersuchungen". Eine Blamage für den belgischen Staat.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Es war neun Uhr morgens am 22. März 2016, und die Polizeibeamtin T. dachte, sie hätte das Schlimmste jetzt hinter sich. Zwei Selbstmordattentäter hatten sich in die Luft gesprengt am Brüsseler Flughafen Zaventem, wo sie an jenem Tag zufällig im Einsatz gewesen war. Sie hatte das ganze Grauen aus der Ferne gesehen, hatte zunächst geholfen, den Tatort zu sichern und dabei erfahren, dass ein guter Bekannter bei der Explosion ein Bein verloren hatte. Dann fuhr sie mit zwei Kollegen zurück in die Innenstadt, unter Schock und zugleich erleichtert.

"Frau Vorsitzende, ich verhehle nicht, dass wir glücklich waren, Zaventem verlassen zu können, denn wir hatten schon sehr viele Dinge gesehen", sagt Polizistin T. Dann versagt ihr die Stimme.

Die Haare links gescheitelt und an den Seiten kurz geschnitten, das Uniformhemd akkurat gebügelt, sitzt Polizistin T., angestellt bei der Brüsseler Bahnpolizei, als Zeugin im Gerichtssaal. Eine schmale energische Frau, 50 Jahre alt. Hilflos schraubt sie eine Weile an einer Wasserflasche herum. Laurence Massart, die Vorsitzende Richterin, lässt ihr die Zeit. Endlich ist die Flasche offen, Polizistin T. nimmt einen Schluck. Dann erzählt sie von dem Funkspruch, der sie an jenem 22. März 2016 kurz nach neun erreichte: eine weitere Explosion, diesmal an der U-Bahn-Station Maelbeek. Polizistin T. und ihre Kollegen waren in unmittelbarer Nähe.

Der Gerichtssaal gehört in diesen ersten Wochen den Opfern

Mit Sirene und Blaulicht machten sich die drei auf den Weg, sahen schon Weitem dunklen Rauch aus dem Zugang zur U-Bahn aufsteigen, erkannten blutende, panische Menschen, die ins Freie stürmten. Die drei Polizeibeamten stellten das Auto ab und begannen ihren Weg nach unten, an einen Ort, den Polizistin T. als Hölle erleben wird.

Eine erste Annäherung an die Hölle - das hat der Prozess zu den Brüsseler Terroranschlägen in den ersten fünf Wochen geleistet. Die 32 Toten, 16 am Flughafen und 16 in der U-Bahn, erhielten im Gerichtssaal noch einmal einen Namen, ein Gesicht, eine Geschichte. 32 kurze Biografien wurden verlesen. Menschen, die unterwegs waren, zur Arbeit, zur Uni, zur Hochzeit, in den Urlaub, zum Unterschreiben eines neuen Mietvertrages - herausgerissen aus dem Leben von drei islamistischen Selbstmordattentätern, die derselben belgisch-französischen Terrorzelle angehörten wie die Täter vom 13. November 2015 in Paris. Anhand von Planquadraten wurde im Gerichtssaal gezeigt, wo die Leichen gefunden wurden, im Detail wurde erklärt, anhand welcher Kriterien man sie identifizierte.

Der Gerichtssaal gehörte in dieser ersten Phase den Opfern und ihren Angehörigen, aber auch den Sanitätern, Feuerwehrleuten, Medizinern, Polizeibeamten, die als Erste zur Stelle waren. Golden Retriever "Lucky" war häufig im Einsatz, eine Art Schmusehund, der traumatisierten Menschen bei ihren Aussagen Halt geben soll.

Die Traumabewältigung fand jedoch immer wieder unter unwürdigen Umständen statt. Denn überlagert wird der Prozess von einem Streit über "Nacktuntersuchungen". Die Frage, um die es geht: Ist es angemessen, dass die Angeklagten sich an jedem Verhandlungstag vor den Augen des Wachpersonals ausziehen und nackt nach vorne beugen müssen, damit auch ihr Anus auf versteckte Waffen untersucht werden kann?

Die Verteidiger warnen vor einer Anfechtung des ganzen Prozesses

Die Verteidiger legten Widerspruch ein und bekamen recht, die Vorsitzende Richterin ordnete an, die "Nacktuntersuchung" müsse in jedem Einzelfall begründet werden. Die für den Gefangenentransport zuständige Behörde legt seither jeden Tag Begründungen vor, die zum Teil fadenscheinig wirken und manchmal offensichtlich fehlerhaft sind. Salah Abdeslam, einziger Überlebender des Pariser Todeskommandos, mutmaßlich auch beteiligt an der Vorbereitung des Brüsseler Blutbades, lese ein Buch über moderne Nahkampftechniken, hieß es etwa. Tatsächlich liest er ein gewöhnliches Fitnessbuch. "Wenn das so weitergeht", sagte Vincent Lurquin, einer der Verteidiger, "könnte der ganze Prozess angefochten werden. Und wir fangen in zwei Jahren von vorne an."

Sprecher von Opfern und Hinterbliebenen zeigen sich entsetzt, und ihr Ärger richtet sich nicht gegen die Verteidiger. Sie sind wütend auf die belgische Justiz, den belgischen Staat, der den Prozess nicht angemessen vorbereitet habe. So steht das auch in belgischen Zeitungskommentaren: Das Land blamiere sich. Vergleiche werden gezogen zum Pariser Prozess, der auf vorbildliche Art und Weise ablief. In Brüssel dagegen hatte man mit sechs Wochen Verspätung begonnen, weil die Verteidiger den Abbau der Einzelkabinen erwirkten, in denen man ihre Mandanten im Gerichtssaal isolieren wollte. Und nun das Spektakel um die "Nacktuntersuchungen". Die Angeklagten nehmen es immer wieder zum Anlass, die Verhandlung zu boykottieren.

Salah Abdeslam ist nicht im Gerichtssaal, als Polizistin T. aussagt. Er hat sich krankgemeldet. Sie sind in demselben Brüsseler Viertel aufgewachsen, der Islamist und die Polizistin, und sie werden für immer verbunden bleiben durch die Hölle in der U-Bahn Maelbeek.

Die Polizistin sagt, auf dem Weg nach unten seien ihr zunächst Getränkeautomaten und Fahrkartenautomaten aufgefallen, die durch die Wucht der Explosion verschoben waren. Auf den Treppen zurückgelassene Rucksäcke und Handtaschen. Eine einzelne Rose. Unten am Bahnsteig zunächst Spuren von Blut und dann von menschlichem Fleisch. Zwei Beine, die aus den Türen des zerfetzten U-Bahn-Wagens ragten. Der verkohlte Körper einer Frau, deren Kopf nicht mehr als Kopf zu erkennen war, deren Arme aber noch um Hilfe zu bitten schienen.

Über Funk erhielten die drei den Auftrag, nach weiteren Bomben zu suchen. Polizistin T. erzählt, sie habe den beiden Kollegen letzte Worte für ihre Familie und ihre Freunde aufgetragen - für den Fall, dass sie getötet würde. Die anderen hätten das Gleiche getan. An dem Punkt versagt ihr noch einmal die Stimme.

Wie sie diese schrecklichen Erlebnisse verarbeitet habe, fragt die Richterin. "Das mag jetzt idiotisch klingen, Frau Vorsitzende", erwidert Polizistin T., "ich weiß noch alles von diesem Tag. Es ist irgendwo weggesperrt in meinem Kopf, doch stets präsent. Aber das Datum, 22. März 2016, musste ich irgendwann ganz bewusst auswendig lernen. Ich habe es einfach immer wieder vergessen."

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