Wahlen, so könnte man sagen, sind in der Politik das, was in der Welt des Waidmanns die Bärenjagd ist – eine anstrengende Unternehmung, bei der das Tier zunächst erlegt werden muss, bevor sein Fell verteilt werden kann. Auf die EU übertragen: Die Jagd nach Stimmen ist vorbei, das neue Europaparlament ist gewählt. Jetzt können sich die Regierungen der 27 EU-Mitgliedsländer daran machen, die Spitzenposten in Brüssel zu vergeben. „An den Personalpaketen wird bereits gearbeitet“, sagt ein europäischer Diplomat.
Die Zahl der Namen, die für verschiedene Ämter kursieren, ist groß, ebenso die Unsicherheit, welche Spekulationen und Gerüchte man ernst nehmen kann. Die Wahlergebnisse lassen allerdings zumindest in einigen Fällen eine halbwegs tragfähige Prognose zu. So ist ohne jeden Zweifel klar, dass die siegreiche, bürgerlich-konservative Europäische Volkspartei (EVP) Anspruch auf das mächtigste Amt in Brüssel erhebt – die Führung der EU-Kommission. Und es ist ebenso klar, dass sie diesen Posten für ihre Spitzenkandidatin einfordert, die amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Damit von der Leyen eine zweite Amtszeit bekommt, muss sie zunächst vom Europäischen Rat – dem Gremium, in dem die Regierungen vertreten sind – mit qualifizierter Mehrheit nominiert werden, danach muss das Europäische Parlament diesem Personalvorschlag mit Mehrheit zustimmen. In beiden Fällen gibt es zwar keine Erfolgsgarantie für von der Leyen, aber es sieht doch relativ gut aus für sie.
Im Rat dominieren Regierungen aus Parteien, die der EVP angehören. Bundeskanzler Olaf Scholz von den Sozialdemokraten hat bisher nicht erkennen lassen, dass er seine Landsfrau von der CDU absägen will. Von der Leyens härtester offener Feind – Ungarns Premier Viktor Orbán – kann die Nominierung nicht blockieren. Ihr potenziell gefährlichster heimlicher Gegner – Frankreichs Präsident Emmanuel Macron – ist nach der Wahlniederlage seiner Partei geschwächt. Fazit: Im Rat sollte von der Leyen reüssieren können.
Im Parlament ist die EVP mit 186 von 720 Sitzen die mit Abstand größte Fraktion. Um die Mehrheit von 361 Stimmen für von der Leyen zu erreichen, braucht die Fraktion also Bündnispartner. Dafür bieten sich die Sozialdemokraten (S&D) sowie die Liberalen (Renew) an, eventuell auch die Grünen oder Abgeordnete aus dem rechteren Lager. Die EVP hat zudem ein Druckmittel: Gegen sie gibt es de facto keine Mehrheit im Parlament, sie kann mögliche Alternativkandidaten also abblocken.
Die Sozialdemokraten haben gute Aussichten auf die Ratspräsidentschaft
Wer aber wird beispielsweise Charles Michel nachfolgen? Der Posten des Präsidenten des Europäischen Rats, ein pompöseres, aber viel weniger einflussreiches Amt als das der Kommissionspräsidentin, dürfte an einen sozialdemokratischen Politiker aus Europa gehen. Das passt zum Wahlergebnis: Die S&D-Fraktion hat die Wahl ohne Gewinne absolviert, aber auch ohne allzu herbe Verluste. Sie ist mit 135 Sitzen die zweitgrößte Fraktion. Nach Angaben von Diplomaten in Brüssel haben die Sozialdemokraten die EVP bereits wissen lassen, dass sie ihre Unterstützung für eine zweite Amtszeit für von der Leyen davon abhängig machen, dass einer aus ihren Reihen – namentlich der ehemalige portugiesische Regierungschef António Costa – die Ratspräsidentschaft erhält.
Danach wird es komplizierter. Unter normalen Umständen könnten die Liberalen, zu denen Macrons brutal abgestrafte Renaissance-Partei gehört, auf einen dritten Spitzenposten Anspruch erheben, den zuletzt der 77-jährige Spanier Josep Borrell innehatte: den des Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik. Der Name, der in diesem Zusammenhang am häufigsten fällt – oder auch für ein wichtiges Kommissionsamt wie das des neuen Verteidigungskommissars –, ist der der estnischen Premierministerin Kaja Kallas. Die Ernennung einer Regierungschefin zur Außenbeauftragten würde eine deutliche Aufwertung des Amts bedeuten. Ob die Staats- und Regierungschefs, die den Posten des „High Rep“ bisher eher als eine Art politische Resterampe behandelt haben, das tatsächlich wollen, sei dahingestellt.
Ein weiteres Problem ist, dass die liberale Renew-Fraktion im Parlament bei den Wahlen arg gerupft wurde. Sie verliert voraussichtlich 22 Sitze, künftig werden ihr wohl nur noch 80 Abgeordnete angehören. Damit könnte sie am Ende nur auf Platz vier landen, hinter der rechtsnationalistischen EKR-Fraktion, der am Montagabend 81 Sitze vorausgesagt wurden – ein Zuwachs um 13 Sitze. Die EKR-Fraktion wiederum wird von den Fratelli d’Italia dominiert, der Partei der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, die im Gegensatz zu Scholz und Macron daheim einen klaren Sieg errungen hat.
In Brüssel wird daher schon seit Längerem spekuliert, dass Meloni ein Brüsseler Spitzenamt für die EKR reklamieren könnte. Neben dem Posten des Außenbeauftragten käme dafür ein wichtiges Portfolio in der neuen Kommission infrage, womöglich gekoppelt an einen Vizepräsidententitel. Melonis größte Herausforderung wäre in diesem Fall, einen Mann oder eine Frau vorzuschlagen, der oder die nicht allzu „postfaschistisch“ auftritt und der die Vertrauensabstimmung im Parlament überstehen kann, der sich die Kommission stellen muss.