Süddeutsche Zeitung

Brüssel:Die Mängelliste

Die EU-Kommissarin Věra Jourová stellt den Bericht der Behörde zur Rechtsstaatlichkeit vor: Sie rügt dabei nicht nur die ungarische Regierung, auch andere Staaten müssen Kritik einstecken.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Kaum jemand ist so gut geeignet, über die Wichtigkeit von unabhängigen Gerichten und freien Medien zu sprechen, wie Věra Jourová. Das liegt nicht daran, dass sie in der EU-Kommission für Werte und Transparenz zuständig ist, sondern an ihrem Mut und ihrer Biografie. "Ich bin einem autoritären Regime ohne Rechtsstaatlichkeit aufgewachsen", sagt die Tschechin bei der Vorstellung des ersten Rechtsstaatsberichts der Kommission. Gleichheit vor dem Gesetz sei "eine Illusion" gewesen und für eine andere Perspektive als die Propaganda der Regierung "mussten wir Radio Free Europe hören".

Dies ist die einzige Bemerkung Jourovás, die sich als Seitenhieb in Richtung des Manns interpretieren lässt, der zwei Tage zuvor von Kommissionschefin Ursula von Leyen per Brief ihre Ablösung gefordert hatte. Im Ungarn von Viktor Orbán ist seit September wieder das vom US-Kongress finanzierte "Radio Free Europe" zu empfangen, weil dort der Bedarf nach "vertrauenswürdigen, unparteiischen" Nachrichten so groß sei. Zu Orbáns Schreiben habe sie "keinen Kommentar", sagt Jourová und betont, die vorliegenden Berichte seien ein Angebot zum Dialog mit den Mitgliedern.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte den "Rechtsstaat-Tüv" im Juli 2019 vorgeschlagen, um die Debatte zu versachlichen und künftig jedes Jahr für alle 27 EU-Mitglieder ein umfassendes Bild zu zeichnen. Gerade Polen und Ungarn, gegen die seit 2017 und 2018 sogenannte Artikel-7-Verfahren wegen des Verstoßes gegen grundlegende Werte der EU laufen, klagen seit Jahren über Doppelstandards und angebliche Stereotype gegenüber Osteuropa. Doch Kritik findet sich überall: Über Spanien schreibt die Kommission, dass die Unabhängigkeit der Generalstaatsanwaltschaft beeinträchtigt sei, sich das Oberste Richtergremium in einer Glaubwürdigkeitskrise befinde. Insofern hat Justizkommissar Didier Reynders recht, wenn er sagt, dass die Berichte eigentlich nichts Neues enthielten, sondern nach langen Konsultationen mit Regierungen und der Zivilgesellschaft die Lage dokumentierten.

In welchen Bereichen die EU-Kommission Defizite sieht, überrascht wenig: Eine Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz sieht sie nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Slowakei. Probleme mit wirksamer Korruptionsbekämpfung existieren demnach in Bulgarien, Kroatien und der Slowakei. Große Widerstände bei der strafrechtlichen Verfolgung von Korruptionsfällen gibt es in Malta und Tschechien, wo Premier Andrej Babiš die Veruntreuung von EU-Geldern vorgeworfen wird. Im Bericht über Ungarn heißt es, dort gebe es einen "beständigen Mangel an Entschlossenheit", Ermittlungen aufzunehmen und Prozesse zu beginnen, wenn Vorwürfe gegen hochrangige Politiker oder deren Umfeld bekannt würden. Laut dem Magazin Forbes heißt Ungarns reichster Mann Lőrinc Mészáros - Orbáns Schulfreund.

Klar beschrieben wird auch die Lage der Journalisten, und wieder attestiert die EU Ungarn eklatante Mängel. Die Medienvielfalt sei einem hohen Risiko ausgesetzt und unabhängige Medien würden "systematisch behindert und eingeschüchtert". Weil es an Transparenz und entsprechenden Gesetzen fehle, könne der Staat "beträchtliche Summen" für Werbung in regierungsnahen Medien platzieren, wodurch indirekt "politischer Einfluss" ausgeübt werden könne. Das System Orbán, es ist auf 25 Seiten gut beschrieben. Und an einem lässt Dider Reynders lässt keine Zweifel: "Dieser Bericht stellt die Einschätzung der Kommission dar."

Wie Jourová spricht er von einer "präventiven Maßnahme", um Fehlentwicklungen zu erkennen und einer guten Ergänzung im "Werkzeugkasten" der EU, der sich bisher als wenig wirksam erwiesen hat. Das Artikel-7-Verfahren steckt fest, weil zu einer Verurteilung quasi Einstimmigkeit nötig ist. Doch jener Dialog unter den Mitgliedstaaten, den neben den Kommissaren auch Staatsminister Michael Roth (SPD) beschwört, hat zumindest in Warschau und Budapest nicht zum Umdenken geführt. Und jene Menschen, die in Bulgarien, dem laut Transparency International korruptesten EU-Land, seit Monaten gegen die Regierung protestieren, erhalten aus Brüssel nur wenig Unterstützung.

Im Europaparlament kommt der Bericht recht gut an. "Der faktenbasierte Ansatz der Kommission ist richtig", findet Daniel Caspary, der Chef der CDU/CSU-Gruppe, die weiterhin mit den Abgeordneten von Orbáns Fidesz-Partei in der Fraktion der Europäischen Volkspartei sitzt. Er fordert, dass die Mitgliedstaaten nun die Ergebnisse analysieren und "mögliche Defizite strukturell beheben". Deutlich kritischer und ernüchternd äußern sich die Grünen. "Mit fortschreitender Bedrohung von Demokratie und Grundrechten müssen auf den Bericht endlich Taten folgen und weitere Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden", fordert etwa Terry Reintke. Für sie zeige besonders der polnische Fall, wie dringend es sei, zu handeln. Katarina Barley (SPD) freut sich, dass "das Narrativ von Orbán und Co gebrochen" werde, "zu Unrecht an den Pranger gestellt zu werden". Die ehemalige Bundesjustizministerin hofft, dass die Berichte die Position des Parlaments stärken, in den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten über den EU-Haushalt für 2021 bis 2027 und das Corona-Aufbaupaket die Vergabe von Geldern wirksam an die Einhaltung von Grundwerten zu knüpfen. Genau dies wollen Polen und Ungarn jedoch verhindern. Die nun vorliegenden Dokumente der Kommission könnten künftig auch genutzt werden, um die Vergabe von EU-Mitteln einzuschränken. Offen ist nur, ob dies durchgesetzt werden kann.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5050154
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 01.10.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.