Brüssel:Aus Sicherheitsgründen geschlossen

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Die Straßen sind leer, die Läden zu, Veranstaltungen abgesagt: In der Region Brüssel gilt die höchste Terrorwarnstufe. Die Behörden erwarten eine "ernsthafte und unmittelbare Bedrohung".

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Ausnahmezustand in Brüssel: Über Nacht hat sich das Gesicht der Stadt verändert, und es passt, dass Samstagmorgen der erste Schnee fällt. Höchste Alarmstufe, es gibt Hinweise auf einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag, wie in Paris. Alle haben Angst. Manche mehr, manche weniger. Der Terror war abstrakt bisher, nur diffus präsent. Wer wollte, konnte sich ausrechnen, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, selbst von einem Anschlag betroffen zu sein. Jetzt hat die Bedrohung alle hier im Griff, weil sie offenbar doch jeden treffen kann.

Belgiens Ministerpräsident Charles Michel sagt am Morgen, man habe eine "ganz genaue Information über das Risiko eines Anschlags wie dem, der sich in Paris ereignet hatte". Er empfahl den Bürgern, zu Hause zu bleiben sowie Ansammlungen, Bahnhöfe, Flughäfen und Einkaufszentren zu meiden. Es sei nicht so, dass überall dort mit einem Anschlag gerechnet werde, heißt es später in den Medien, man wolle nur die Sicherheitskräfte entlasten, damit sie an den wirklich neuralgischen Punkten präsent sein könnten. Die Lage sei "ernst, aber unter Kontrolle", sagt Innenminister Jan Jambon.

Das Leben geht zwar weiter, aber ruhiger und bedächtiger. Große Shopping-Zentren machen gar nicht erst auf oder sperren gleich wieder zu. In der Rue Neuve, der Haupteinkaufsstraße in der Stadtmitte, dauert es eine Weile, bis sich die Nachrichten herumsprechen. Manch ein Ladenbesitzer will es nicht wahrhaben, schließlich verhaut ein Samstag ohne Einnahmen die Bilanz enorm. Aber dann hängt doch einer nach dem anderen ein Schild an die herabgelassenen Rolläden: "Liebe Kunden, aus Sicherheitsgründen ist dieses Geschäft geschlossen." Das ist das erste Mal, dass er so etwas erlebe, sagt der Vorsitzende der Geschäftsvereinigung. Viele der Märkte, die Brüssel am Samstag so beleben, finden zwar statt, etwa in St. Gilles oder Stockel, aber es geht kaum jemand hin.

Um kurz nach zehn Uhr klingelt das Telefon: Das Hockeyspiel des Sohns fällt aus. Pour raisons de securité. In einem ruhigen, gutbürgerlichen Stadtteil, weit weg von Molenbeek. Alle ausstehenden Amateurbegegnungen sind abgesagt, auch im Fußball und Basketball. Die Schwimmbäder bleiben zu, auch die meisten Museen. Am Mittag schlendern nur noch ein paar Menschen durch die Rue Neuve.

Neben ihnen patroullieren Soldaten, das Gewehr im Anschlag, wie an allen großen Plätzen und Bahnhöfen der Stadt, wie auch in Molenbeek. Mancherorts liegen Scharfschützen in Position. Genau in der Mitte des schönen runden Platzes vor der Gare Centrale thront ein gepanzertes Militärfahrzeug. Die Eisenbahnzüge fahren noch, nur an der Station Schuman, die direkt vor den europäischen Institutionen liegt, rauschen sie vorbei. Rot-weißes Absperrband flattert im kalten Wind zwischen den riesigen Bauten der Europäischen Union.

Molenbeek - wo die Terroristen wohnen

Die Entscheidung des nationalen Krisenzentrums, die Terrorwarnstufe für den Großraum Brüssel auf die höchste Stufe vier zu setzen, fiel schon in der Nacht zum Samstag. Man erwartet also eine "ernsthafte und unmittelbare Bedrohung". Terroristen könnten mit Waffen und Sprengstoff zuschlagen, so Ministerpräsident Michel, "vielleicht sogar an verschiedenen Orten".

Am Samstagmittag versammeln sich dann auch die Bürgermeister der 19 Brüsseler Teilgemeinden und koordinieren ihre Handlungen, das heißt: Sie wiederholen im Wesentlichen, was der Premierminister schon gesagt hat. Das ist nicht so selbstverständlich wie es klingt. Durchaus möglich wäre nämlich in Brüssel, dass jeder Stadtteil macht, was er für richtig hält. Das soll jetzt nicht passieren. Erst Sonntagnachmittag will das Kabinett die Lage wieder bewerten.

Seit Tagen wird den belgischen Behörden von allen Seiten Versagen attestiert. Und so drängt sich der Gedanke auf, dass sie jetzt überreagieren. Andererseits: Die Gefahr aus Molenbeek sei real, sagt der Terrorexperte André Jacobs im belgischen Fernsehen. "Hier sind die Terroristen zuhause, hier können sie mit der App Snapchat kommunizieren. Da lassen sich Anschläge innerhalb einer Woche vorbereiten."

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In der Region Brüssel gilt die höchste Terrorwarnstufe. Das öffentliche Leben kommt mehr und mehr zum Erliegen.

Am Freitagabend war nach Polizeiangaben eine "Schlüsselfigur" im Zusammenhang mit den Anschlägen von Paris im Großraum Brüssel festgenommen worden. In der Wohnung des Verdächtigen in Molenbeek und in einem ihm gehörenden Kleinlaster fand man drei Waffen, allerdings keine Kalaschnikow und auch keinen Sprengstoff. Laut dem Sender RTBF war die Festnahme nicht der unmittelbare Grund für die verschärften Maßnahmen in Brüssel. Es hätten andere, direkte Hinweise vorgelegen.

Noch immer auf freiem Fuß ist Salah Abdeslam

Einige der Pariser Attentäter kommen aus der Brüsseler Stadtgemeinde Molenbeek-Saint-Jean. Sie war auch Heimat des mutmaßlichen Drahtziehers der Terrorserie, Abdelhamid Abaaoud, der am Mittwoch von der französischen Polizei bei einer Razzia getötet wurde. Noch immer auf freiem Fuß ist Salah Abdeslam, der an den Pariser Anschlägen beteiligt gewesen sein soll. Der 26-Jährige aus Molenbeek ist der Bruder des Attentäters Ibrahim Abdeslam, der in Paris ums Leben kam. Laut einer belgischen Zeitung wurde Salah am Donnerstag in der Brüsseler Stadtgemeinde Anderlecht gesehen.

Inzwischen hat die französische Polizei nach Angaben aus Justizkreisen sieben von acht Personen aber wieder freigelassen, die bei der Razzia im Pariser Stadtbezirk Saint-Denis festgenommen worden waren. Acht Personen waren zum Verhör in Gewahrsam genommen worden, fünf aus dem Gebäude in Saint-Denis und drei von außerhalb. Weiterhin inhaftiert bleibe ein Mann, dem nach eigenen Aussagen das Haus gehöre, in dem sich die Getöteten aufgehalten hätten, hieß es am Samstag in Justizkreisen in Paris.

Ein 26 Jahre alter Belgier marokkanischer Abstammung ist auch unter den drei Terrorverdächtigen, die in der Türkei bei einer Razzia in der Nähe von Antalya festgenommen wurden. Es handele sich um mutmaßliche Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Der Belgier werde verdächtigt, Gebiete von Paris erkundet zu haben, in denen sich die Anschläge ereignet hatten, berichtete die türkische Nachrichtenagentur Dogan.

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