Süddeutsche Zeitung

Britischer Historiker:Eric Hobsbawm ist tot

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Er war einer der bedeutendsten Historiker des 20. Jahrhunderts, bekennender Marxist und Vorbild für viele Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler weltweit: Der linke Geschichtswissenschaftler Eric Hobsbawm gilt als einer der einflussreichsten britischen Denker. Nun ist er im Alter von 95 Jahren gestorben.

Am 1. Oktober 2012 endet das 20. Jahrhundert endgültig: Eric Hobsbawm, einer der führenden Historiker der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, ist im Alter von 95 Jahren gestorben. Der "Mann aus dem extremen Jahrhundert" gilt als einer der wichtigsten Sozial- und Wirtschaftshistoriker Großbritanniens. Sein lebenslanges Bekenntnis zum Marxismus sorgte gerade während der Zeit des Kalten Krieges für Kontroversen.

Der jüdischstämmige Hobsbawm wurde nur wenige Monate vor der russischen Revolution, am 9. Juni 1917 im ägyptischen Alexandria als Sohn eines britischen Kolonialbeamten und einer Wiener Kaufmannstochter geboren. Weil seine Eltern früh verstarben, zog er 1931 für zwei Jahre zu seinem Onkel nach Berlin, wo er Mitglied des Sozialistischen Schülerbunds wurde. 1933 siedelte zu Verwandten nach London über. "Dass ich Marxist geworden bin, liegt an meinen persönlichen Erfahrungen in den dreißiger Jahren, in der Großen Depression", betonte er später immer wieder.

Nach seinem Studium am King's College in Cambridge und dem Militärdienst für die britische Armee im Zweiten Weltkrieg wurde Hobsbawm zum Dozenten am Birkbeck College der Universität London. Dort wurde er in den nächsten Jahrzehnten zu einem der einflussreichsten linken Denker Europas. Seine Mitgliedschaft in der Communist Party of Great Britain behielt er auch nach der sowjetischen Invasion Ungarns im Jahre 1956 bei - anders als andere britische marxistische Historiker.

"Streben nach dem utopischen Ziel"

Obwohl er sich gegen die Niederschlagung aussprach, brachte ihm seine Haltung den Ruf ein, ein Apologet der Sowjetunion zu sein. Über Stalin schrieb er: "Seine furchterregende Karriere ist sinnlos, außer, wenn wir sie als stures, ungebrochenes Streben nach dem utopischen Ziel einer kommunistischen Gesellschaft interpretieren."

Hobsbawm wurde mit seinem Buch "Das Zeitalter der Revolution", einer Geschichte Europas von 1789 bis 1848, im Jahr 1962 auch weit über akademische Kreise bekannt. Für Hobsbawm war Ziel der Geschichtsschreibung immer, die verborgenen Muster und Mechanismen zu zeigen, die unsere Welt verändern. Dieser Ansatz und seine ungewöhnlich witzige Schreibweise machten ihn bei linken Studenten und Wissenschaftlern zu einer wichtigen Figur, sein Einfluss auf die 68er-Bewegung ist allerdings umstritten.

Die sechziger Jahre bewertete Hobsbawn später so: "Ich habe die historische Bedeutung unterschätzt. Es war keine politische oder soziale Revolution, sondern mehr eine Art spirituelles Äquivalent zur Konsumenten-Gesellschaft - jeder macht sein eigenes Ding. Ich bin nicht sicher, dass ich das mag".

Vordenker und Kritiker New Labours

In den folgenden Jahrzehnten ergänzte er mit zwei weiteren Bänden seine Geschichtstrilogie über das "lange 19. Jahrhundert" bis 1914. In mehreren Dutzend Aufsätzen beschäftigte er sich mit der Arbeiterbewegung. 1994 veröffentlichte er "Das Zeitalter der Extreme", eine Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in 37 Sprachen übersetzt wurde und in der er den Zusammenbruch der Sowjetunion analysierte. Nebenbei schrieb er unter dem Pseudonym Francis Newton für die Zeitschrift New Statesman über Jazz.

Gemeinsam mit Terence Ranger prägte er den über die Geschichtswissenschaft hinaus relevanten Begriff der "erfundenen Tradition" ( The Invention of Tradition). Danach sind scheinbar althergebrachte Traditionen bei genauerer Betrachtung nur in der Gegenwart konstruierte Sitten und Bräuche, denen durch Projektion in die Vergangenheit Allgemeingültigkeit verliehen werden soll.

In diesem Zusammenhang analysierte Hobsbawm auch die eben gerade nicht natürliche oder gar zwangsläufige, sondern durchaus von Interessen geleitete Entstehung von Nationen im 19. Jahrhundert ("Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780").

Seit Ende der Siebziger warf der Historiker der britischen Labour-Party stets vor, die Veränderungen der Gesellschaft nicht genügend zu berücksichtigen. Seine Kritik an "Old Labour" gilt als einer der Anstöße für die Neuausrichtung der Partei durch Tony Blair in den Neunzigern. Die Politik Blairs kritisierte er später allerdings ebenso wie die Irak-Invasion George W. Bushs.

Der Lehman-Pleite im Jahr 2008 maß Hobsbawm ebenso große Bedeutung zu wie den Anschlägen auf das World Trade Center 2001. In einem Interview mit dem Stern sagte er 2009 einen Kollaps des Kapitalismus voraus: "Die Politiker sind Gefangene des alten Denkens, das ist beängstigend. Womöglich kann sich der Kapitalismus tatsächlich nur durch eine Riesenkatastrophe retten, wie es Schumpeter nennen würde, durch eine 'kreative Zerstörung'." Dabei schloss er sogar einen neuen Weltkrieg nicht aus.

Wie seine Tochter Julia mitteilte, ist Eric Hobsbawm in der Nacht zum Montag im Londoner Royal Free Hospital an einer Lungenentzündung gestorben.

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