Süddeutsche Zeitung

Britische Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg:"Trauben von Deutschen in Stücke gerissen"

Das Britische Nationalarchiv beginnt mit der Veröffentlichung von mehr als 1,5 Millionen Seiten, auf denen britische Offiziere das Grauen des Ersten Weltkriegs schildern. Das Beispiel des Soldaten James Paterson zeigt, dass mancher trotz der Brutalität der Front das Mitgefühl für den Feind nicht verloren hatte.

Bald hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs stellt Großbritannien die Kriegstagebücher seiner Offiziere ins Internet. Das Britische Nationalarchiv hat mit der Veröffentlichung von mehr als 1,5 Millionen Seiten begonnen, auf denen das Kriegsgeschehen Tag für Tag aufgezeichnet ist.

Das Archiv rief zugleich Hobby-Historiker auf, im Zuge der Operation War Diary (Operation Kriegstagebuch) bei der Auswertung der Tagebücher zu helfen, um sie für die breite Öffentlichkeit durchsuchbar und somit zugänglicher und leichter nutzbar zu machen. "Viele Leute denken, dass das Kriegstagebuch einer Einheit nur Orte und Daten und Aktivitäten erwähnt, doch in diesen Akten sind viele, viele Geschichten enthalten", sagte der Militärspezialist des Nationalarchivs, William Spencer.

Durch die Digitalisierung der Aufzeichnungen würden sie für künftige Generationen erhalten und auf neue Weise zugänglich gemacht. In einem ersten Schritt wurden etwa 2000 Dokumente online gestellt. Die Kriegstagebücher sind offizielle Aufzeichnungen des Kriegsgeschehens durch die Kommandeure der einzelnen Einheiten an der Front.

Beschrieben wird zum Beispiel, wohin die Einheiten marschierten oder welche Wetterbedingungen sie vorfanden. Kranke, die zurückkehren, werden erwähnt, ebenso Aktivitäten wie Übungen für Gedenkveranstaltungen oder Freizeitaktivitäten wie Rugby-Wettkämpfe. Ein großer Teil der persönlichen Tagebücher von britischen Soldaten liegt im Imperial War Museum in London.

Das Nationalarchiv stellte jedoch auch beispielhaft private Notizen des Kommandanten James Paterson in Netz. Nach einer Schlacht beschrieb er, wie er überall um sich blutverschmierte Kleidung, Munition und tote Kameraden sah:

"Es ist unbeschreiblich, wie es wirklich ist. (...) Überall dieselben harten, grauenvollen und mitleidlosen Zeichen des Krieges."

Dass einige Soldaten doch Mitgefühl mit dem Gegner hatten, zeigt das Beispiel von Hauptmann Paterson. Der Offizier schrieb am 16. September 1914 von der Westfront in Frankreich:

"Schwärme von Deutschen auf der Anhöhe, relativ dicht gedrängt. Unsere Geschütze eröffnen das Feuer auf sie aus 1800 Yard Entfernung und man kann einen schrecklichen Anblick durch das Fernglas sehen: Trauben von Deutschen in Stücke gerissen".

"Ich kann mir nicht vorstellen, jemals grauenhaftere und herzzerreißendere 48 Stunden zu verbringen als die letzten", schrieb Patterson, der beim 1. Bataillon der South Wales Borderers diente.

"Arme Kerle liegen totgeschossen in allen Richtungen"

Großbritannien begeht das Kriegsjubiläum mit zahlreichen Veranstaltungen. Derzeit wogt im Vereinten Königreich ein Streit darüber, ob die Deutschen alleine Schuld am Kriegsausbruch hatten, oder ob auch auf Seiten der Briten, Franzosen und Russen Wortführer den Waffengang wollten. Es ist eine Debatte, in der viel von Heroentum die Rede ist und die teilweise bizarre Züge trägt (hier mehr dazu).

Die nun veröffentlichten Kriegstagebücher scheinen weniger Pathos zu enthalten. Aufzeichnungen, wie die jenes James Paterson zeigen das reale Grauen des Krieges. Der Offizier schildert "unbeschreibbare" Szenen. "Arme Kerle liegen totgeschossen in allen Richtungen", heißt es etwa.

An anderer Stelle schrieb er, dass sie im Dunkel der Nacht die eigenen Soldaten zu erschießen drohten. Sein Tagebuch endet im Spätherbst 1914. Am 1. November, drei Monate nach Beginn der Kampfhandlungen, starb James Patterson in jenem Krieg, der das alte Europa zerstören sollte.

Hier geht es zur Operation War Diary des Britischen Nationalarchivs.

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