Britische Premierministerin:Theresa May ist selbst ihr größtes Opfer

Theresa May Hosts The Polish Prime Minister For Cross-Government Talks

Viele Briten haben sich in den vergangenen Wochen gefragt, was die Premierministerin antreibt und warum sie immer noch weitermacht, sich immer noch mehr eingräbt.

(Foto: Getty Images)

Seit Juli 2016 versucht die britische Premierministerin, den EU-Austritt, ihr Land und ihr Amt in den Griff zu bekommen. Mit wenig Erfolg. Die Stimmung gegen sie ist feindselig.

Von Cathrin Kahlweit

Maidenhead ist eine nette Kleinstadt westlich von London mit einer hübschen Brücke über die Themse und viktorianischen Gebäuden entlang der Hauptstraßen. 1649 durfte König Charles I. dort, nach Bürgerkrieg und Hochverratsprozess, ein letztes Mal seine Kinder treffen, bevor er enthauptet wurde; eine Plakette kündet davon. Die Spice Girls haben dort mal gemeinsam ein Haus bewohnt, bevor ihre Pop-Karriere so richtig losging.

Wenn Journalisten heute nach Maidenhead fahren, dann tun sie das in der Regel, um die größte lebende Berühmtheit der 70 000-Einwohner-Stadt zu beobachten: Premierministerin Theresa May. Sie hat seit den späten Neunzigerjahren hier ihren Wahlkreis, den sie mit mal mehr, mal weniger großem Abstand gewonnen, aber eben immer gewonnen hat.

Aber auch bei der VIP-Bewohnerin gibt es nicht viel zu sehen; wenn man sie überhaupt zu sehen bekommt. Ist sie daheim, geht sie, die Tochter eines Vikars, sonntags mit ihrem Mann Philip, einem Investmentbanker, in die Kirche. Samstags marschiert sie zu ihrem Fitnesstrainer, zum Work-out. Manchmal trifft sie Lokalpolitiker, besucht eine Weihnachtsfeier, vergibt Preise bei einer Kunstausstellung. Alltag einer Alltäglichen.

Mays Hobby: Kochbücher sammeln

Bekannte beschreiben sie als blass, ihr Privatleben als eher uninteressant. Hobbys: Kochbücher sammeln. Freunde: wenige. Allüren: höchstens die Vorliebe für auffällige Schuhe. Ablenkungen: Sudoku, Spazieren gehen. Das Ehepaar hat keine Kinder, nachdem May in Oxford Examen gemacht hatte und bevor sie in die Politik ging, arbeitete sie in der Finanzbranche. Small Talk könne sie nicht, heißt es; wenn sie mit Bürgern auf der Straße oder bei einer Parteiveranstaltung rede, wirke sie immer steif, fast schüchtern. Kein Wunder, dass sie sich so an ihr Amt klammere, schreibt der Times-Kolumnist und frühere konservative Politiker Matthew Parris: "Politik ist alles, was sie kennt."

Viele Briten haben sich in den vergangenen Wochen gefragt, was die Premierministerin antreibt und warum sie immer noch weitermacht, sich immer noch mehr eingräbt. Trotz massiven Drucks, trotz harscher Kritik an ihrem EU-Austrittsdeal im Unterhaus, trotz des Misstrauensvotums aus der eigenen Fraktion, trotz der harten Linie, die Brüssel ihr gegenüber einnimmt. "Plowing on relentlessly" (unerbittlich weiterpflügen) nennt man das in Großbritannien. May, befindet die Times, sei mittlerweile "der Fliegende Holländer der britischen Politik".

Matthew Parris, der Kolumnist, der May noch von alten, gemeinsamen Parteitagen kennt und 2017 für die BBC ein Porträt über sie gedreht hat, erzählt in einem seiner Texte eine irritierende Geschichte über die Politikerin, die unter David Cameron erst Innenministerin und dann, nach dem Brexit-Referendum und Camerons Rücktritt, Regierungschefin wurde. Weil sie so schlecht mit Menschen umgehen könne und am liebsten Akten lese, hätten die Mitarbeiter der Downing Street regelrecht mit ihr geübt, Persönliches rüberzubringen. So sollte sie zum Beispiel erzählen, wie es für sie als junge Frau war, dass 1981 erst der Vater an einem Verkehrsunfall und dann 1982 die Mutter an Multipler Sklerose starb. Sie habe das nicht zu beantworten gewusst.

Zwei Mitarbeiter berichteten ihr hilfsweise von ihren Erfahrungen in einer ähnlichen Situation. Als May später tatsächlich nach ihren Eltern gefragt worden sei, habe sie fast wörtlich die Formulierungen ihrer Assistenten übernommen. Parris nennt sie daher zweifelnd die "Sphinx von Maidenhead". Eine ihrer Bekannten hingegen, Camilla Cavendish, lobt Mays distanziertes Auftreten explizit: Die Premierministerin, sagt die frühere Politikstrategin unter Cameron, habe sich nie angebiedert. Es sei ihr egal, ob sie gemocht werde; ihr gehe es um die Sache.

"Brexit heißt Brexit" wurde ihr geflügeltes Wort

Im Juli 2016 hatte sie den wohl härtesten Job des Landes übernommen; bei den Tories hatte sich niemand gefunden, der einen Brexit umsetzen wollte, welcher vom Politikbetrieb eher als Betriebsunfall der Geschichte denn als echte historische Mission angesehen wurde. Aus ihrer Zeit als Innenministerin war sie bekannt dafür, hart, ja kompromisslos zu sein. Nicht sympathisch, nicht herausragend, aber entschlossen. Detailversessen und visionslos nennt sie der frühere Vizepremier Nick Clegg von den Liberaldemokraten; nie sei sie in ein Meeting ohne ihre Berater gekommen, nie habe sie das persönliche Gespräch gesucht, nie Interesse für die großen Bögen in der Politik gezeigt. "Brexit heißt Brexit" wurde ihr geflügeltes Wort; der Guardian-Journalist John Crace verpasste ihr den Spitznamen "Maybot", und der blieb haften. May, der Roboter, das war von nun an ihr Image.

Zwei Jahre, zahlreiche Kursänderungen und Rückschläge später ist es einsam um sie geworden. Ihr sorgfältig zusammengestelltes Team aus Gegnern und Fans des Brexit hat sich aufgelöst, ein Dutzend Minister und Staatssekretäre sind aus Protest zurückgetreten. Im Parlament ist die Stimmung so feindselig, dass sie bei ihren Reden niedergebrüllt wird. Sie sei "selbstgerecht" geworden, kommentiert der Daily Telegraph, der ihr lange wohlgesonnen war. Ihre wichtigsten Eigenschaften, schreibt eine Psychologin für das Blatt per Ferndiagnose, seien Pflichtgefühl und Selbstvertrauen, sie scheitere aber am Versuch, eine Quadratur des Kreises aus den Interessen von Brexit-Gegnern, Brexiteers und EU hinzubekommen.

May hatte gesagt, Brexit bedeute, dass Großbritannien nach dem 29. März 2019 nicht mehr in der Zollunion, nicht mehr im Binnenmarkt sein werde. Andere, weichere Optionen hat sie ausgeschlossen. Hat sich von Tory-Hardlinern, die auf einen Exit ohne Deal setzen, treiben lassen. Hat ihre Unterstützer nie bei den Remainers gesucht, hat keine Brücke zur Opposition gebaut. Wegbegleiter von May aus den vergangenen Jahren berichten übereinstimmend, das sei ihre größte Schwäche: immer allein kämpfen zu wollen, nicht auf andere zu hören, keine Koalitionen zu bilden.

Von ihrem Radikal-Brexit ist zuletzt wenig übrig geblieben, zu vielen Kompromissen wurde sie gezwungen - und immer noch kämpft sie für ihren Vertrag. Steckt ein, teilt aus. Scheinbar ungerührt. Ihre Hartnäckigkeit sei in Wirklichkeit Sturheit und Fantasielosigkeit, werfen ihre Gegner ihr vor; sobald sie vom Skript abweiche, sich nicht mehr an ihre Textbausteine halten könne, agiere sie wie eine Fernsehmoderatorin ohne Teleprompter.

Textbausteine als Rettungsanker

Das hatten Mitte Dezember auch die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Brüssel beobachtet, auf dem May erneut nachverhandeln wollte. Sie versuchte das, weil der Austrittsvertrag auf Ablehnung bei den Oppositionsparteien, aber auch beim Regierungspartner, der nordirischen DUP, und Teilen der eigenen Fraktion stößt. Und sie habe tatsächlich "Brexit heißt Brexit" gesagt, bemerkte ein Sitzungsteilnehmer in Brüssel kopfschüttelnd. Textbausteine als Rettungsanker.

Die Nachverhandlungen mit der EU, so erfolglos und fruchtlos sie auch waren, sind offenbar derzeit das Einzige, woran sich Theresa May klammert. Sie hatte behauptet, sie werde eine Zusage aus Brüssel mitbringen, dass die Backstop-Lösung für Nordirland befristet werde. Diese besagt, dass sich, bis ein Vertrag über die künftigen Beziehungen steht, ganz Großbritannien unbefristet an Regeln und Standards der EU-Zollunion hält, Nordirland aber zusätzlich an den europäischen Binnenmarkt angedockt bleibt. DUP und Brexiteers wollen diese Befristung unbedingt. Aber May konnte das Versprechen nicht einhalten. Sie musste nach London zurück, sich der Wut im Unterhaus stellen. Und was sagte sie? Sie werde nachverhandeln. Der Maybot in Reinform.

Um das Misstrauensvotum in der eigenen Partei zu überstehen, musste sie auch versprechen, die Tories nicht in die nächste Wahl zu führen. Dabei wollte sie das Amt sicherlich nicht nur in einer Krise erben, sondern beweisen, dass sie landesweit Wahlen gewinnen kann. Bei der Parlamentswahl 2017, die May ihre Mehrheit kostete, hatte sie allerdings versagt, selten den richtigen Ton getroffen. Nun werden Wetten angenommen, wie lange sie politisch überlebt. Gut möglich, dass Labour am 15. Januar, wenn der Austrittsvertrag wieder im Unterhaus zur Abstimmung steht, ein Misstrauensvotum einbringt. Oder dass sie gehen muss, wenn das Land auf einen No Deal zusteuert.

Theresa May müsse Flexibilität und Sensibilität zeigen, wenn sie das Parlament und das Land einen wolle, hatte Matthew Parris geschrieben. Leider aber stehe ihr beides nicht zu Gebote. Auch deshalb sei sie selbst ihr größtes Opfer.

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