Briten und der Erste Weltkrieg:Große Kontroverse um den Großen Krieg

Britische Soldaten in Antwerpen, 1914

Britische Royal Marines marschieren durch Ostende im Jahre 1914. Sie sollen die Besatzung von Antwerpen verstärken. Zuvor hatten die Deutschen das neutrale Belgien überfallen.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die britische Regierung will die Gedenkfeiern zum Beginn des Ersten Weltkriegs nutzen, um das Nationalgefühl zu stärken. Eine schlechte Idee, meinen manche Historiker - denn London habe vor 100 Jahren einen schweren Fehler gemacht.

Vor zwei Jahren hat Großbritannien ein riesiges Fest gefeiert: Queen Elizabeth II. beging ihr Diamantenes Thronjubiläum. So wie die Kronfeierlichkeiten, sagte Premierminister David Cameron im vergangenen Oktober, möge sein Land auch die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren begehen. Es solle "ein wahrlich nationaler Moment" werden, verlangte der Premierminister.

Der BBC-Journalist und Weltkriegs-Experte Jeremy Paxmann war der erste, dem Zweifel kamen. Er äußerte die Befürchtung, 100 Jahre Erster Weltkrieg könnten zu einer "Feier des Krieges" in Großbritannien missbraucht werden. Schließlich seien in dem Krieg zehn Millionen Menschen umgekommen, davon fast eine Million aus Großbritannien und seinem Empire.

Allgegenwärtiges Militär

Tatsächlich: Wer die Briten nicht kennt, kann in ihrer Einstellung zum Kriegsgedenken durchaus das erkennen, was woanders "Hurra"-Geschrei genannt wird. Heldenverehrung, Parolen des nationalen Zusammenhalts, Demonstrationen von Stärke: Das Militär und seine Historie sind in Großbritannien allgegenwärtig.

Uniformierte Soldaten weisen beim Tennisturnier in Wimbledon den Zuschauern die Plätze an, Mitglieder des Königshauses zeigen sich öffentlich in Kampfanzug und Parade-Rock, Laien stellen zum Zeitvertreib in voller Montur ganze Schlachten nach.

Jedes Jahr im Herbst, wenn am 11. November der Remembrance Day ansteht, stecken sich im öffentlichen Leben stehende Personen eine rote Mohnblüte ans Revers. Damit wird der Toten der Weltkriege gedacht - besonders derer des Great War (Großer Krieg), wie im Vereinten Königreich das Gemetzel zwischen 1914 und 1918 genannt wird. Die Mohnblüte entstammt dem Gedicht "Flanders Fields", in dem der kanadische Feldarzt John McCrae die Situation auf den Schlachtfeldern in Flandern nach 1914 beschrieben hatte (hier mehr dazu).

Wer Poppie, die Mohnblüte, verweigert, läuft Gefahr, sich öffentlich rechtfertigen zu müssen. So wie es gemäßigten Kräften im Kultur- und im Außenministerium erging. Sie hatten sich diplomatisch dafür ausgesprochen, den Deutschen anlässlich der Gedenk-Feierlichkeiten nicht "die Schuld vor die Tür zu legen". Dafür habe er wenig Verständnis, polterte etwa Bildungsminister Michael Gove sogleich. Er sprach unter anderem vom "rücksichtslosen Sozialdarwinismus der deutschen Eliten" und einem "erbarmungslosen Besatzertum" der 1914 "jeden Widerstand mehr als gerechtfertigt" habe (hier mehr dazu).

Die Regierung spricht vom "gerechten Krieg"

Der Erste Weltkrieg sei ein "gerechter Krieg" gewesen, um die Aggression des Deutschen Reiches zu unterbinden. Das müsse man auch genau so sagen, lieferte ihm die Downing Street rhetorischen Feuerschutz. "Wir sollten sehr deutlich machen, dass der Erste Weltkrieg in einem gerechten Sinne geführt wurde und dass unsere Vorgänger der Auffassung waren, es wäre schlecht, ein von Preußen dominiertes Europa zu haben", sagte Premier Cameron in einem Zeitungsinterview.

Bildungsminister Gove wollte sogar Lehrpläne und Schulbücher für den Geschichtsunterricht umschreiben und jede abweichende geschichtliche Deutung daraus streichen lassen. Eine Staatssekretärin aus seinem Ministerium konnte dies gerade noch mit dem Argument verhindern, es sei für die Schüler gut zu wissen, dass es in der Welt mehrere Perspektiven auf die Dinge gebe. Offiziell trat Großbritannien in den Krieg ein, weil es Garantiemacht war für die Neutralität Belgiens, das die Deutschen überfielen, um leichter in Frankreich einzumarschieren (hier mehr dazu).

Die Sichtweisen der Mehrheit der Historiker auf den Waffengang unterscheiden sich inzwischen deutlich von der offiziellen britischen Regierungslinie. Der australische Cambridge-Professor Christopher Clark hat in seinem Buch "Die Schlafwandler" schon im Titel deutlich gemacht, wen er für die Schuldigen an dem Krieg hält: Eine versagende, zaudernde politische Klasse in den meisten der beteiligten Länder.

Richard Evans, Historiker in Cambridge rückt die geschichtlichen Dimensionen zurecht: "Das imperiale Deutschland war nicht Nazi-Deutschland und der Kaiser war nicht Hitler." Die historische Gesellschaft verlieh Evans darauf für seinen "robusten Beitrag zu einer wichtigen Debatte" umgehend und demonstrativ eine Ehrenmedaille.

Harvard-Wissenschaftler Niall Ferguson machte deutlich, dass der britische Kriegseintritt politisch nicht nötig und einer der schwersten Fehler der modernen Geschichte des Landes war.

Anders John C. G. Röhl. Der renommierte deutsch-britische Geschichtsforscher dokumentiert in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, wie die Reichsregierung um den Kaiser einen großen Krieg gegen Frankreich und Russland plante, an dessen Ende ein Kontinentaleuropa (und weite Teile Afrikas) beherrschendes Großdeutschland stehen sollte. Der Historiker sieht die britische Regierung 1914 unter Zugzwang - und stärkt damit der heutigen Regierungslinie den Rücken.

Der Kriegseintritt Londons sei ein "notwendiges Übel" gewesen, resümiert Röhl und fügt mit Blick auf seinen Historikerkollegen Christopher Clark hinzu: Die britische Beteiligung sei nicht "Folge von Fehlentscheidungen einer weltabgewandten Elite in London, die schlafwandelnd in einen sinnlosen Krieg hineingeschlittert ist."

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