Süddeutsche Zeitung

Brexit:Zackig oder Zölle

EU und Großbritannien läuft die Zeit davon: In gut 16 Wochen droht Chaos an den Grenzen. Vor der nächsten Verhandlungsrunde werden Vorwürfe ausgetauscht.

Von Björn Finke und Alexander Mühlauer

Michel Barnier, der EU-Chefverhandler für den Brexit, war bereits vorige Woche in London, um sich mit seinem britischen Gegenüber David Frost auszutauschen. Das Duo wollte die achte Verhandlungsrunde zwischen EU und britischer Regierung vorbereiten, die am Dienstag an der Themse startet. Doch die Unterredung mit Frost verlief nicht nach Barniers Geschmack. Der Franzose warf dem Briten kurz darauf in einer Rede in Dublin vor, Kompromissangebote der EU auszuschlagen; er sei "beunruhigt und enttäuscht über das Versäumnis des Vereinigten Königreichs", wichtige Streitpunkte konstruktiv anzugehen. In der EU-Kommission sind die Erwartungen für das neue Treffen daher niedrig. In London weist man Barniers Anschuldigungen zurück. Großbritannien werde kein "client state" der EU, sagte Frost der Mail on Sunday. Er werde keine Kompromisse machen, wenn es darum gehe, "Kontrolle über unsere eigenen Gesetze zu haben". Fest steht jedenfalls: Die Zeit für einen Deal wird knapp - und die Hürden sind hoch.

Kurze Frist und hoher Einsatz

Großbritannien hat die EU zwar schon am 31. Januar verlassen, doch seitdem gilt eine Übergangsphase, in der das Königreich in Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Währendessen ändert sich für Bürger und Firmen fast nichts. Diese Phase läuft zum Jahreswechsel aus - in nur noch 116 Tagen -, und der britische Premierminister Boris Johnson hat die Frist für den Verlängerungsantrag verstreichen lassen. Vom 1. Januar an werden Geschäfte über den Ärmelkanal daher mit bürokratischen Pflichten verbunden sein. Um diese zumindest zu verringern und die Einführung von Zöllen und Zollkontrollen zu verhindern, wollen London und Brüssel bis Jahresende einen Freihandelsvertrag abschließen. Außerdem soll es noch Vereinbarungen zur Zusammenarbeit in anderen Bereichen geben, etwa in der Sicherheitspolitik.

Seit März verhandeln Frost und Barnier, aber der Durchbruch blieb bislang aus. Nun wird die Zeit knapp, denn solchen Verträgen müssen alle 27 EU-Regierungen, das Europaparlament und nationale Parlamente zustimmen, inklusive natürlich das britische. Fachleute in Brüssel und London rechnen vor, dass der Handelsvertrag deswegen bis Ende Oktober stehen muss, damit er am 1. Januar in Kraft treten kann. Ohne Abkommen müssten beide Seiten automatisch Zölle erheben; das schreiben die weltweiten Handelsregeln vor.

Streit um fairen Wettbewerb

Die größte Hürde für einen Handelsvertrag betrifft das sogenannte "Level Playing Field", also die Forderung der EU, dass es faire Spielregeln geben müsse für den Wettbewerb zwischen Unternehmen aus Großbritannien und der Europäischen Union. Brüssel möchte zollfreien Handel nur gewähren, wenn London garantiert, kostspielige Sozial- oder Umweltstandards nicht abzusenken, zum Vorteil heimischer Betriebe. Außerdem verlangte Brüssel beim Start der Gespräche, dass die strengen EU-Regeln für staatliche Subventionen im Königreich weiter gelten sollten. Inzwischen ist Barnier Frost entgegengekommen: Er will nur noch sichergestellt sehen, dass britische Subventionsregeln nicht laxer ausfallen als die EU-Vorschriften.

Doch das geht Johnson noch immer zu weit. Der Premierminister möchte, dass Großbritannien als souveräne Nation selbst entscheiden kann, welchen Wirtschaftsbereich es wie stark staatlich fördert. In London ist das Unverständnis darüber groß, warum Großbritannien als ehemaliges EU-Mitglied mehr Zusicherungen in der Wettbewerbspolitik machen sollte als etwa Kanada oder Japan. Mit diesen Staaten hat die EU ein klassisches Freihandelsabkommen geschlossen - mehr möchte Großbritannien auch nicht, heißt es.

Barnier lässt dieses Argument nicht gelten. Die Kommission verweist auf die geografische Nähe und die enge Verflochtenheit der britischen mit den anderen europäischen Volkswirtschaften: Deswegen müssten schärfere Regeln gelten. Außerdem monierte Barnier in seiner Rede vorige Woche, dass die Briten in den Gesprächen viele Erleichterungen für ihre Firmen durchsetzen wollten, die weit darüber hinausgehen, was übliche EU-Handelsverträge wie der mit Kanada bieten.

Hinzu kommt: Bislang weigert sich die britische Seite, ihre Pläne für die künftige Wettbewerbspolitik offenzulegen. Ein entsprechendes Papier soll "im Herbst" kommen. Es ist also bislang unklar, wie staatliche Beihilfen in Großbritannien künftig geregelt und überwacht werden sollen. Barnier fragte denn auch in seiner Dubliner Rede, wie die EU jemals "einen Vertrag über eine langfristige wirtschaftliche Partnerschaft abschließen" könne, "ohne zu wissen, welches Staatsbeihilfen- oder Subventionssystem das Vereinigte Königreich etablieren wird". Allerdings wird die britische Verhandlungsposition beim Subventionsstreit dadurch geschwächt, dass London der EU bereits im sogenannten Protokoll zu Irland und Nordirland gewissen Einfluss auf die eigene Beihilfepolitik zugestanden hat. Dieses Protokoll ist Teil des Austrittsvertrags und soll verhindern, dass auf der irischen Insel jemals Zollkontrollen nötig sein werden .

Feilschen um den Fisch

Schwierig sind auch die Gespräche über ein Fischerei-Abkommen. Und ohne Einigung in diesem Bereich wird Brüssel keinem Handelsvertrag zustimmen. Bislang legt die EU in ihrer Gemeinsamen Fischereipolitik fest, dass britische Fischer in ihren eigenen Gewässern vergleichsweise wenig fangen dürfen - zum Vorteil von Flotten aus EU-Staaten. So holen etwa deutsche Hochseefischer ihren kompletten Nordsee-Heringsfang aus britischem Seegebiet. Die Position der EU war anfangs, dass diese günstige Verteilung so bleiben soll. London lehnte das ab. Barnier sagt nun, er habe verstanden, dass Johnson den heimischen Fischern zeigen müsse, "dass der Brexit einen echten Unterschied macht" - sprich: dass sie mehr Fangquoten erhalten, zulasten der EU-Fischer. Aber konkrete Fortschritte gibt es noch nicht. Der EU ist zudem wichtig, eine langfristige Lösung zu finden und nicht jedes Jahr von Neuem mit London über die Aufteilung von Fangquoten sprechen zu müssen. Doch genau das möchte Johnson.

Gezerre um das Gericht

Das Vereinigte Königreich will sicherstellen, dass es nicht mehr der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) unterliegt. Dies war von Anfang an eines der Kernanliegen der Brexit-Verfechter. Auf Brüsseler Seite gab es in dieser Frage bereits Bewegung. Zwar müsse klar sein, dass der EuGH immer das letzte Wort habe, wenn es um die Auslegung von EU-Recht gehe, sagt ein Kommissionsbeamter: "Aber die Verträge mit Großbritannien werden ja nicht ausschließlich auf EU-Recht basieren." Einigkeit besteht darüber, dass es in Streitfällen einen Schlichtungsmechanismus geben muss. Möglich wäre ein paritätisch besetztes Gremium mit Richtern des EuGH und des britischen Supreme Courts. Vorsitzender könnte ein Vertreter eines Landes sein, der weder Brite noch EU-Bürger ist.

Bange Banken

Die Finanzbranche spielt in Barniers und Frosts Debatten nur eine Nebenrolle. Dabei ist London Europas wichtigster Finanzplatz. Brüssel will den Marktzugang britischer Banken und Versicherer aber nicht in den Gesprächen über den Handelsvertrag klären, sondern über das sogenannte Äquivalenzprinzip: Erkennt die EU an, dass die Regulierung in einem Nicht-EU-Staat äquivalent, also gleichwertig zu Brüsseler Vorgaben ist, kann sie den dortigen Finanzfirmen ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt gewähren. Von solchen Privilegien profitieren etwa manche US-Finanzdienstleister. Allerdings decken Äquivalenzregeln nicht sämtliche Finanzprodukte ab, und die Kommission kann die Begünstigungen jederzeit wieder einkassieren, ohne dass die Regierung des betroffenen Staates dies verhindern könnte - eine deutliche Verschlechterung zur jetzigen Lage.

Außerdem drohen Verzögerungen. London und Brüssel wollten die für die Äquivalenz-Entscheidung nötige Bewertung des jeweils anderen Finanzregelwerks schon Ende Juni abgeschlossen haben. Doch diesen Termin konnten sie nicht halten.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2020
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