Süddeutsche Zeitung

Brexit:Labour-Chef Corbyn enthüllt Wirtschaftsbericht zu Nordirland

  • Corbyn warf Premierminister Johnson vor, die Wähler in Sachen Brexit zu belügen. Es werde zu Zollformalitäten beim Handel über die irische See hinweg kommen.
  • Er selbst würde sich nach der Wahl neutral verhalten und einen neuen Deal in einem Referendum zur Abstimmung stellen.

Von Cathrin Kahlweit, London

Jeremy Corbyn, Chef der britischen Labour-Partei, hat in Sachen Brexit einen schweren Stand. Anders als Boris Johnson, der mit dem Slogan "Get Brexit done" viele Wähler anzieht, die finden, dass der Brexit die Debatte lange genug dominiert habe, verspricht der Oppositionschef, sich nach der Wahl neutral zu verhalten. Er wolle ein "ehrlicher Makler" sein, mit Brüssel einen guten Deal für Großbritannien aushandeln und diesen dann, gemeinsam mit der Remain-Option, in einem neuen Referendum zur Abstimmung stellen.

Die Tories allerdings punkten im Wahlkampf genau damit: mit dem Vorwurf, Corbyn wisse ja nicht mal selbst, was er wolle. Am kommenden Donnerstag ist Wahltag, und derzeit sieht es in Umfragen so aus, als wolle eine Mehrheit der Briten, dass Johnson den Brexit durchzieht. Labour muss massiv aufholen, wenn eine satte Tory-Mehrheit verhindert werden soll, und in Sachen Brexit aktiv die Wahlkampfslogans der Konservativen kontern.

Deshalb ergriff Corbyn am Freitagmorgen mit einer überraschend angesetzten Pressekonferenz die Initiative und legte ein Dokument vor, das nach seinen Angaben aus dem britischen Finanzministerium weitergereicht worden war. In diesem rechnen Beamte der Regierung vor, wie negativ sich der Brexit auf die Wirtschaft in Nordirland damit und mittelbar auch auf die Einheit des Königreichs auswirken würde. Corbyn warf Johnson vor, die Wähler zu belügen, wenn dieser immer wieder behaupte, es werde keine Kontrollen und keine Zollformalitäten beim Handel über die Irische See hinweg geben.

Bei einem Besuch in einer Fabrik in Nordirland hatte Johnson vor einigen Wochen seinem Brexit-Minister widersprochen, der zuvor in der BBC eingeräumt hatte, es werde doch Zollkontrollen zwischen Nordirland und Britannien geben. "Wenn Ihnen jemand sagt, Sie sollten Zollformulare ausfüllen", so der Premier zu Unternehmern, "dann sagen Sie denen, sie sollen mich anrufen. Und werfen Sie die Formulare in den Müll."

Zwar heißt es im Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrages, den London mit Brüssel abgeschlossen hat, dass es "ungehinderten Zugang" für nordirische Firmen auf den britischen Markt geben werde. In dem Papier, das Labour vorliegt, bestätigt das Finanzministerium jedoch, dass für den Handel von Nordirland auf die britische Insel Tarife anfallen. Zudem würden Zolldeklarationen, Herkunftsnachweise, Sicherheitschecks und regulatorische Überprüfungen fällig. Auch beim Handel von West nach Ost müssten Zollerklärungen für Exporte ausgefüllt und Sicherheitschecks berücksichtigt werden.

Der ökonomische Einfluss, so das Dokument, werde sich "sehr störend" auf die nordirische Wirtschaft auswirken. 98 Prozent der Exporteure von Nordirland auf die britische Insel seien kleine und mittlere Unternehmen, die unter den zusätzlichen Kosten, die durch Zollformalitäten entstehen würden, zu leiden hätten. Preise für Alltagswaren würden in Nordirland steigen, Umsätze zurückgehen. Es sei ein Anstieg des Schmuggels zu erwarten, so das Ministerium, und das Vertrauen in Produkte aus Nordirland werde zurückgehen.

Die Tories dementierten Fakten, die ihren Brexit in einem schlechten Licht erscheinen ließen

Premierminister Johnson hatte bei der Präsentation des Vertrags mit Brüssel hingegen betont, dies sei ein "großartiger Deal" für Belfast; er werde das Königreich nicht spalten. Tatsächlich, so Corbyn auf seiner Pressekonferenz am Freitagmorgen, werde Nordirland mit dem Tory-Brexit ökonomisch vom Rest des Königreichs abgetrennt. Die Tories dementierten Fakten, die ihren Brexit in einem schlechten Licht erscheinen ließen, und wollten, "dass die Briten blind wählen müssen".

Das letzte Mal hatte der Labour-Chef überraschend eine Pressekonferenz angesetzt und nicht öffentliche Dokumente präsentiert, als er Negativschlagzeilen vom Vortag überdecken wollte. Corbyn hatte vor Kurzem in einem Interview der BBC eine ausgesprochen schlechte Figur abgegeben und unter anderem eine Entschuldigung gegenüber jenen jüdischen Parteimitgliedern vermieden, die sich von antisemitischen Umtrieben in der Partei verfolgt und verletzt fühlen. Am Tag danach ging er mit einer Pressekonferenz in die Offensive, in der er den Tories vorwarf, sie wollten das nationale Gesundheitssystem NHS in einen künftigen Handelsvertrag mit den USA einbeziehen. Auch diesmal waren der spontan angesetzten Pressekonferenz Berichte über Antisemitismus bei Labour vorausgegangen.

Boris Johnson stand - aufgrund der Vorwürfe von Labour zu den Auswirkungen des Brexits auf Nordirland - also am Freitag politisch unter Druck. Viele Medien berichteten über den "vertraulichen Nordirland-Report", den Corbyn enthüllt habe. Gleichzeitig muss der Premier sich dafür rechtfertigen, dass er sich just jenem BBC-Interviewer nicht stellt, der Corbyn vor knapp zwei Wochen so in die Mangel genommen hatte, dass dieser einen schweren Imageschaden erlitt. Andrew Neil hat bisher alle anderen Parteichefs im Wahlkampf befragt. Johnson aber weigert sich stur, sich von Neil in der BBC interviewen zu lassen. Neil hatte am Donnerstag eine direkte Botschaft an Johnson gerichtet. Ein Premier, der sich sogar Wladimir Putin und Donald Trump stellen müsse, so meinte er, werde doch wohl den Mut haben, sich mit ihm eine halbe Stunde vor die Kamera zu setzen.

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SZ vom 07.12.2019/mxh
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