Brexit:Wie die britische Boulevardpresse Stimmung gegen die EU macht

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Die Queen unterstützt angeblich den Brexit, und die EU will britische Wasserkocher abschaffen: Die britische Boulevardpresse schreckt mal wieder vor nichts zurück. (Foto: Quelle: Daily Express, The Sun, Daily Mirror)
  • Eine wissenschaftliche Studie belegt, dass fast die Hälfte von 928 Zeitungsartikeln im Vereinigten Königreich eindeutig für einen Austritt aus der EU plädierten, nur 27 Prozent waren dafür zu bleiben.
  • Vor allem Boulevardblätter werben für den Brexit, indem sie Fakten teilweise verdrehen und emotional aufblasen.
  • So empört sich eine Zeitung über eine geplante EU-Richtlinie für energieeffizientere Elektrogeräte: Die EU wolle britische Wasserkocher abschaffen und das Teekochen werde mühsamer.

Von Esther Widmann

Über die Queen und andere Mitglieder des britischen Königshauses berichtet die Klatschpresse andauernd irgendwelche Dinge, die mit der Realität wenig zu tun haben. Meistens lässt man sie gewähren: Zu unwichtig sind die Dinge, die da kolportiert werden, oder zu offensichtlich nicht wahr. Wenn also der Buckingham Palace einschreitet und sich hochoffiziell schriftlich an den Presserat, die Independent Press Standards Organisation, kurz Ipso, wendet, um sich zu beschweren, dann muss die Angelegenheit von einiger Wichtigkeit sein.

Und das war sie. Selbst für ein Boulevardblatt war die Überschrift ein Knaller: "Queen backs Brexit" titelte die britische Sun Anfang März, die Königin unterstützt den Austritt aus der EU. Die exklusive Information stammte zwar angeblich schon von 2011, aber egal. Die Geschichte war in der Welt, dass die Queen bei einem Mittagessen vor fünf Jahren ihrem Ärger über die EU Luft gemacht haben soll.

Der Palast dementierte umgehend: "Die Königin bleibt politisch neutral, so wie sie es 63 Jahre lang war." Und Ipso wies, wenn auch erst einige Zeit später, die Sun zurecht: Die Schlagzeile sei "in erheblichem Maße irreführend" und verstoße damit gegen die oberste Regel des Pressokodex: Sorgfalt. Denn der Text liefere keine Rechtfertigung für die Überschrift.

Brexit - damit das Teewasser schneller kocht

Auch wenn die - angebliche - Meinung der Königin womöglich der größte Trumpf ist, den eine Zeitung ziehen kann: Es gibt ausreichend andere Beispiele für verdrehte Fakten. "Jetzt will die EU UNSERE WASSERKOCHER abschaffen", war vor wenigen Wochen (und fast gleichlautend schon einmal 2014) auf der Titelseite des Daily Express zu lesen. Die EU wolle schon lange "unsere" Haushaltsgeräte durch energieeffizientere Modelle ersetzen - das klingt, als mache "die EU" Gesetze speziell für die Briten, und Bürger in Frankreich, Polen und Griechenland dürften weiterhin ihr Teewasser kochen, worin sie wollen.

Wobei das denen, so impliziert die Argumentation des Artikels, vermutlich sowieso egal wäre, denn Briten tränken sechsmal mehr Tee als Menschen auf dem Festland. Und der Gedanke, dass die neuen Wasserkocher langsamer sein könnten als die alten und die Briten deshalb bei einem Verbleib in der EU "riskieren, in ihrem eigenen Zuhause länger auf eine Tasse Tee warten zu müssen", könnte laut dem Express ein Faktor sein, weshalb sie lieber aus dem Staatenverbund austreten wollen.

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Aus einer seit 2003 bestehenden, EU-geförderten grenzübergreifenden Zusammenarbeit von Regionen zu beiden Seiten des Ärmelkanals, dem sogenannten Channel Arc Manche, machte der Daily Express 2011 die Titelseite "EU wants to merge UK with France" ("Die EU will das Vereinigte Königreich mit Frankreich verschmelzen"). Das Land solle "zerstückelt", England "von der Landkarte getilgt werden". Nun ja. Bei den Zusammenkünften des Channel Arc Manche tauschen sich die Regionen unter anderem über Meeresverschmutzung und wirtschaftliche Fragen aus.

Im gleichen Text gibt der Express freimütig zu, er führe einen "Kreuzzug", um Großbritannien von der EU zu befreien. Die Zeitung unterstützt die EU-feindliche rechtspopulistische UK Independence Party (Ukip) finanziell und scheut auch nicht davor zurück, seine Leser direkt zur Wahl der Partei aufzurufen.

Diese Beispiele sind die Extreme, die Aufreger, aber sie sind nur die besonders aufregenden Schlagzeilen in einer systematischen Anti-EU-Kampagne einiger Zeitungen. Ein von dem Medienunternehmen Thomson Reuters mitfinanziertes Forschungsinstitut an der Universität von Oxford hat 928 Zeitungsartikel ausgewertet, die nach dem EU-Deal am 19. Februar erschienen sind. Das Ergebnis: 45 Prozent plädierten eindeutig dafür, die EU zu verlassen, nur 27 Prozent waren dafür zu bleiben. Weitere 19 Prozent werteten die Forscher als "gemischt oder unentschlossen" - und nur 9 Prozent traten weder für die eine noch für die andere Seite ein.

Ganz vorne mit dabei bei den Austritts-Befürwortern: die Daily Mail, der Daily Express , der Daily Star , The Sun und The Daily Telegraph - mit Ausnahme des Telegraph allesamt Boulevardblätter. Für den Telegraph schreibt allerdings Londons ehemaliger Bürgermeister Boris Johnson eine Kolumne - da Johnson sich auf die Seite der EU-Gegner geschlagen hat, ist nicht auszuschließen, dass auch seine Artikel zu dieser Bilanz beigetragen haben.

Selbstbestimmung und Zuwanderung als Aufregerthemen

Die Studie des Reuters Institute zeigt auch, auf welche Punkte die jeweiligen Zeitungen abheben: Die Boulevardblätter Sun und Daily Mirror betonten vor allem die Selbstbestimmung - viele Briten wettern gegen die "Bevormundung" aus Brüssel mit Gesetzen, ganz so, als sei "die EU" ein eigenständiges Wesen und nicht eine Organisation aus verschiedenen Gremien, in denen jeweils auch immer das Vereinigte Königreich mitredet und mitbestimmt.

Die Daily Mail, der Daily Express und der von dem gleichen Verlag herausgegebene Daily Star konzentrierten sich vor allem auf die Frage der Zuwanderung. Alle sechs Minuten werde ein Migrant an den UK-Grenzkontrollposten in Belgien und Frankreich aufgehalten, heißt es da etwa. Selbst wenn die Zahlen stimmten: Im Falle eines Brexit würden all diese Menschen womöglich nicht mehr schon in Belgien und Frankreich von der Einreise ins Vereinigte Königreich abgehalten. Frankreich hat bereits angedroht, im Falle eines EU-Austritts diese Grenzkontrollen auf seinem Territorium nicht mehr zu erlauben und die Grenze von Calais nach Dover zurückzuverlegen.

Die vier Qualitätsblätter Financial Times, Guardian, Telegraph und Times konzentrieren sich laut der Studie mehr auf wirtschaftliche Argumente - die für die Bürger des Vereinigten Königreiches von Anfang an der wichtigste, wenn nicht einzige Grund waren, der EU beizutreten. In den 1970er Jahren lag die Wirtschaft im Vereinigten Königreich am Boden; viele Beobachter führen den Aufschwung auf den Beitritt zur europäischen Staatengemeinschaft zurück.

Aber würde irgendjemand eine Boulevard-Titelseite kaufen, auf der das steht? Eben. Dann lieber die Queen. Und ihr Wasserkocher.

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