Theresa May hat am Donnerstag einen Brief an EU-Ratspräsident Donald Tusk geschrieben, in dem sie um eine Verlängerung des Austrittsverfahrens bis zum 30. Juni bittet. May geht offenbar davon aus, dass sie ihren zweimal abgelehnten Deal in der kommenden Woche doch noch durch das Parlament bekommt. Gelinge das nicht, so May, dann müsse das Parlament entscheiden, wie es weitergeht. Sie deutete auch an, sie könne in einem solchen Fall womöglich zurücktreten. May hatte eine Verschiebung des Austrittstermins eigentlich immer abgelehnt, sieht sich aber durch die Ereignisse nun doch dazu gezwungen.
In einer kämpferischen, teils aggressiven Rede, mit der die Premierministerin bei den Abgeordneten reichlich Befremden auslöste, sagte sie, das Volk habe ein Recht auf den Brexit - und das Parlament habe nun lange genug "Nabelschau betrieben". Sie halte die Teilnahme an Wahlen zum EU-Parlament für "inakzeptabel", das könne den Briten nicht zugemutet werden. Daher habe sie nur eine kurze Verschiebung des Austrittsdatums in Brüssel beantragt, die bis zum Zusammentreten des neuen EU-Parlaments reicht.
Noch während May im Unterhaus sprach, wurde allerdings bekannt, dass die EU-Kommission eine Verlängerung bis Ende Juni für höchst problematisch hält und Mays Antrag wohl nicht entsprechen wird. Die Verschiebung müsse, heißt es in Brüssel, spätestens am 23. Mai, also am Tag der EU-Wahlen, enden.
Kurz darauf galt auch das nicht mehr: Donald Tusk ließ wissen, dass eine Verschiebung an eine Zustimmung zum Deal gebunden sei. May musste umgehend umplanen; ihr Fahrplan war in diesem Moment schon Makulatur. Sie bestellte Opposition und immerparteiliche Gegner in die Downing Street ein; wenig später hieß es, sie werde abends ein Statement abgeben.
Der Schlagabtausch im britischen Unterhaus hatte eigentlich gezeigt, dass May sich gegen das Parlament stellt, das sie für die aktuelle Krise verantwortlich macht. Es wurde auch deutlich, dass sie keine Absicht hatte, einen Konsens im Unterhaus anzustreben, das den von ihr ausgehandelten Austrittsvertrag mit großer Mehrheit abgelehnt hatte. Diese Haltung, das war schnell klar, würde sie nach dem Ultimatum aus Brüssel aufgeben müssen.
Zuvor aber musste sie zahlreiche Angriffe abwehren. Auf zahlreiche Nachfragen von Abgeordneten, warum sie keine sogenannten indikativen Abstimmungen zulassen wolle, mit denen das Parlament seine Prioritäten für einen künftigen Vertrag mit der EU darlegen könne, antwortete sie, das Unterhaus habe die Gelegenheit dazu gehabt, aber alternative Lösungen abgelehnt. Deshalb sehe sie keinen Grund, noch einmal abzustimmen. Auf den empörten Hinweis von Labour-Abgeordneten, mit ihrem Deal, den sie kommende Woche offenbar zum dritten Mal einbringen will, tue sie aber genau das, konterte May, dies geschehe im Interesse des Volkes.
Britische Medien kritisierten May nach ihrem Aufritt im Unterhaus deshalb massiv. Sie agiere "abgehoben von der Realität" und habe keine Autorität mehr, schrieb der Guardian. May habe sich endgültig in die Hand der Hardliner in der eigenen Partei begeben, die eine lange Verschiebung des Brexit-Termins mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Die Gefahr eines "No Deal", eines vertragslosen Austritts, so die Times, sei mit diesem Tag noch einmal stark gestiegen. Entsprechend kritische Berichte kamen auch aus dem Kabinett, auch dort wächst die Verärgerung über die Premierministerin. Mehrere Minister sollen mit Rücktritt für den Fall gedroht haben, dass sie den Hardlinern nachgibt, wieder andere drohten zu gehen, wenn sie eine lange Verschiebung beantrage, weil das die Gefahr eines weichen Brexits erhöhe.
Im Parlament wurde derweil heftig debattiert, wie es nun weitergehen kann. Sollte May ihren Deal ein drittes Mal vorlegen, müsste sie das Votum des Parlamentssprechers John Bercow umgehen, der am Montag dekretiert hatte, eine dritte Abstimmung sei nur über eine "substanziell veränderte" Vorlage zulässig. Medienberichten zufolge soll es weitere Gespräche mit der nordirischen DUP über eine ultimative Zustimmung zum Austrittsabkommen mit Brüssel geben; bisher hatte die Partei, die May im Unterhaus eine Mehrheit verschafft, ihre Zustimmung verweigert. May umwirbt die DUP seit Wochen, um mit ihren Stimmen dem Deal eine größere Chance im Unterhaus zu verschaffen. Offenbar wird derzeit darüber diskutiert, ob eine Aufwertung der Belfaster Legislative den umstrittenen Backstop, die Auffanglösung für Nordirland, erträglicher machen würde. Der Backstop würde in Kraft treten, wenn sich das Königreich und die EU nach dem Brexit nicht auf ein Abkommen über die weitere Zusammenarbeit einigen können. Seit mehr als zwei Jahren gibt es in Belfast keine Regierung, die Region wird weitgehend von Beamten verwaltet. Nun soll es Überlegungen geben, dem Stormont, dem nordirischen Parlament, eine Art Veto gegenüber EU-Regeln einzuräumen. Diese sehr technische Debatte könnte für die DUP ein Weg sein, Mays Deal doch noch durchzuwinken. Egal wie - alles hängt nun davon ab, ob sie bis kommende Woche das Unterhaus überzeugt.