Süddeutsche Zeitung

Brexit:Der Souverän begehrt auf

  • Wenige Tage vor der Entscheidung des britischen Parlaments über den Brexit-Vertrag hat die Regierung von Theresa May eine große Zahl von Abgeordneten verärgert.
  • May wollte ihre Zusage, ein juristisches Gutachten zum Brexit-Vertrag in voller Länge zu veröffentlichen, wieder rückgängig machen.
  • Dagegen begehren die Abgeordneten nun auf - und sorgen so für eine Sternstunde der Demokratie.
  • Für den Fall, dass May mit ihrem Brexit-Votum im Unterhaus scheitert, sicherten sich die Abgeordneten erweiterte Mitspracherechte für den darauffolgenden Regierungskurs.

Von Cathrin Kahlweit, London

Der britische Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox hatte am Montag sein Bestes gegeben, hatte ausgiebig seine schauspielerischen Fähigkeiten genutzt und versucht, die Abgeordneten mit Charme und Expertise zu bezirzen - allein: Es reichte nicht. Cox hatte das Parlament im Auftrag der Regierung allgemein darüber informieren sollen, welche Fallstricke, Auswirkungen und Folgen seine Juristen im EU-Austrittsvertrag versteckt sehen, über den in Westminster am kommenden Dienstag abgestimmt werden soll. Aber die Abgeordneten wollten mehr - und sollten das am Ende auch bekommen. Dafür versetzten sie der Regierung von Premierministerin Theresa May eine symbolische Ohrfeige, wie es sie in der Geschichte des Parlaments selten gegeben hat. Das Unterhaus, dem Cox Bericht erstattete, hatte bereits am 13. November beschlossen, dass man das ganze Gutachten sehen wolle, das der oberste Jurist des Landes der Regierung vorgelegt hatte - keine Zusammenfassung, keinen Kurzvortrag. Die Regierung wiederum wusste an jenem 13. November, dass sie die Abstimmung über eine vollständige Veröffentlichung sicher verlieren würde - und verzichtete daher auf jede Gegenwehr.

Im Raum steht der Vorwurf der "Missachtung des Parlaments"

Die leistete sie nachträglich. Nun mochte sie die Expertise doch nicht veröffentlichen, berief sich dabei auf "Sicherheitsfragen" und das nationale Interesse, forderte die Übertragung der Frage an einen Fachausschuss. Damit erregte das Kabinett den Zorn der Oppositionsparteien Labour, Grüne und Liberaldemokraten, der schottischen SNP und der walisischen Plaid Cymru sowie des politischen Partners, der nordirischen DUP.

Sie alle beschlossen daher, die Regierung zu bestrafen: Am Dienstag stimmte eine Mehrheit von 311 zu 293 Abgeordneten einem Beschluss zu, dass sich die Regierung der "Missachtung des Parlaments" (to hold in contempt) schuldig gemacht habe. Der BBC zufolge ist es das erste Mal in der Geschichte des Parlaments, dass eine Regierung so abgemahnt wird. Dieser Beschluss kam für May und ihr Kabinett zur Unzeit: Sie hatte am Dienstag, zum Auftakt eines fünftägigen Debattenmarathons über den Brexit-Vertrag, eigentlich eine feurige Rede halten wollen. Stattdessen konnte die Nation über Stunden dabei zusehen, wie sich die Parlamentarier über ihre Regierung in Rage redeten.

Brexit-Schattenminister Keir Starmer von der Labour-Partei führte noch sachlich aus, dass die Regierung sich nicht an die Vorgaben der Legislative gehalten habe und dies als "Verachtung" (contempt) bezeichnet werden müsse. Ein DUP-Abgeordneter, dessen Partei May bisher stützte, aber ein Nein zum Brexit-Vertrag angekündigt hat, warf der Regierung jedoch vor, sie habe sich über den Willen des Volkes hinweggesetzt, der im Parlament gespiegelt werde - und sich damit einen "Schritt weg von der Demokratie hin zur Diktatur" bewegt.

Einige Debattenredner wollten die Bestrafung der Regierung dem parlamentarischen "Komitee für Privilegien" überlassen. Andere forderten, das seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr genutzte Recht der Abmahnung der Regierung wegen Missachtung des Parlaments sei im 21. Jahrhundert unbedingt anzuwenden - schließlich sei es die Regierung, die dem Parlament zu dienen habe, und nicht umgekehrt. Die Debatte wirkte über Strecken wie ein Streit um des Kaisers Bart, wurde aber letztlich zu einer Lehrstunde in Demokratie: Hier vergewisserte sich ein Parlament engagiert seiner Rechte und Pflichten im Angesicht einer historischen Entscheidung, in der die Mehrheit des Unterhauses nicht so will wie die Regierung. Der Streit war jedoch auch eine Machtprobe mit Abwesenden, war doch demonstrativ kaum ein Kabinettsmitglied anwesend. Nach der Abstimmungsniederlage vollzog die Regierung eine prompte Kehrtwende. Um weitere Demütigungen zu vermeiden, kündigte sie an, das vollständige Rechtsgutachten am Mittwoch offenzulegen. Später erlitt May eine zweite Niederlage: Das Parlament votierte - mit den Stimmen einiger Tories - dafür, dass es erweiterte Mitspracherechte über den Regierungskurs bekommt, sollte May mit ihrem Brexit-Vertrag kommende Woche scheitern. Britische Medien kommentierten umgehend: "Westminster erobert sich die Macht zurück."

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SZ vom 05.12.2018
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