Süddeutsche Zeitung

Brexit:Dieser Vertrag ist eine Übergangslösung

Nach harten Verhandlungen liegt ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien vor. Es lässt viele Fragen offen, bereitet aber den Weg für die Zeit nach der Trennung. Mehr war nicht möglich.

Kommentar von Cathrin Kahlweit

Mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Referendum, mit dem die Briten ihre EU-Mitgliedschaft gekündigt hatten, und mehr als anderthalb Jahre nach dem formalen Austrittsbeschluss liegt nun ein Vertrag zwischen London und der EU vor. Er ist, wie Theresa May jedem ihrer Minister am Dienstagabend im Einzelgespräch versicherte, das Beste, was herauszuholen war; und derzeit sieht es auch so aus, als werde das Kabinett das Ergebnis mehrheitlich schlucken. Von der Meuterei, mit der vor dem Deal gedroht wurde, ist - zumindest am Kabinettstisch - am Morgen danach nicht mehr die Rede. Denn die Alternative, der Austritt ohne Vertrag, wäre eine Katastrophe, an der auch unter den größten Hardlinern kaum jemand schuld sein will.

Wenn man genau hinschaut, dann ist das Austrittsabkommen, das die Briten withdrawal agreement nennen, sogar eine recht elegante Lösung - ungeachtet aller Verwerfungen, aller Drohungen, aller Ultimaten, unter denen es zustande gekommen ist. Es umreißt die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur EU für die kommenden Jahre. Nicht mehr und nicht weniger.

Am 29. März 2019 verlässt Großbritannien die EU, dann setzt eine knapp zweijährige Übergangsphase ein, in der im Wesentlichen alles so bleibt, wie es war. In diesem Zeitraum soll begonnen werden, einen Zukunftsvertrag zu formulieren, ein Freihandelsabkommen für die Zeit danach. Weil so etwas aller Erfahrung nach Jahre, bisweilen sogar ein ganzes Jahrzehnt dauern kann, wird das Land derweil in der Zollunion bleiben.

Das ist eine Art Zwischenschritt, den sich wohl viele Briten gern erspart hätten - ein "Brexit nur dem Namen nach", wie die Gegner des Regierungskurses kritisieren. Andererseits: Wer kann ehrlich sagen, was der "Wille des Volkes" 2016 am Ende einer Kampagne voller Desinformation und vager Versprechen tatsächlich war? Damals wusste niemand, wie so ein Brexit konkret aussehen könnte - und in Wahrheit weiß es auch heute niemand so recht.

Aktuellen Umfragen zufolge findet die Mehrheit der Briten, die Regierung soll einfach endlich irgendeinen Vertrag abschließen, Schluss machen mit dem Gezerre, und sich wieder auf andere drängende Fragen konzentrieren. Schließlich haben die Tories das Land in den vergangenen Jahren sozialpolitisch und infrastrukturell ausbluten lassen; vielen Briten ist der Brexit ziemlich egal, sie wollen Röntgengeräte, die funktionieren, Züge, die fahren, Sozialämter, die Gelder auszahlen.

Ob dieser Vertrag im Dezember das britische Parlament passiert, darüber wird in den kommenden Wochen endlos beraten, gestritten und geschrieben werden. Die nordirische DUP wird wohl dagegen stimmen, sie will keine Sonderstellung für Nordirland, die - auch wenn Brüssel in dieser Hinsicht jede Menge Kompromisse gemacht hat -, unausweichlich ist. Unter den Hardlinern bei den Tories haben vorher viele "Verrat" gebrüllt. Mal sehen, wie viele von ihnen am Ende tatsächlich gegen die eigene Regierung votieren, nun, da ein Deal zu haben ist, den man nicht lieben muss, aber den man über die Jahre zu einer dauerhaften Lösung ausbauen und abändern kann.

Die Labour-Basis murrt ob der ausweichenden Haltung von Jeremy Corbyn, viele Abgeordnete halten die Strategie ihrer Parteispitze für fatal, viele werden letztlich mit den Tories für einen machbaren, pragmatischen Brexit-Deal stimmen. Denn das ist die vorliegende Lösung, die Briten und Europäer ausgehandelt haben. Sie zementiert nichts und lässt alles offen. Ja, die Briten bleiben bis auf Weiteres in der Zollunion und ja, sie müssen EU-Standards und Regeln einhalten, ohne mitreden zu dürfen.

Der aktuelle Vorschlag ist nicht das Schlechteste aus zwei Welten, wie viele Kritiker monieren, sondern eine Art Scharnier-Lösung: ein Gelenk, das zwei feste Teile, die Zeit vor und nach dem Brexit, beweglich verbindet.

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