Süddeutsche Zeitung

Brexit-Abstimmung:"Wir sind in der Was-zum-Teufel-sollen-wir-bloß-machen-Phase"

  • Knapp zwei Wochen vor dem verabredeten EU-Austrittsdatum ist London in eine politische Depression verfallen.
  • Am Dienstag wird im Unterhaus erneut abgestimmt.
  • Doch das einzige, was konkret vorliegt, ist der Deal, mit dem Premierministerin May schon im Januar gescheitert war.
  • Keiner weiß, wie es weitergeht. Im Vereinigten Königreich werden unterschiedlichste Möglichkeiten durchgespielt.

Von Cathrin Kahlweit, London

Es gibt wieder mal einen neuen, treffenden Begriff im britischen Brexit-Orbit. Nach Brexmas (Brexit wie Weihnachten, bei dem alle Wünsche der EU-Gegner wahr werden) und Brexshit (der EU-Austritt so, wie seine Gegner ihn sehen) reden die Briten derzeit vom schlimmsten aller Albträume: der Brexiternity. Was das bedeutet, liegt auf der Hand: ein Austrittsprozess, der schwierig und so verfahren ist, dass er nie endet.

In den vergangenen Tagen sah es so aus, als sei diese Brexit-Ewigkeit ein Stück nähergerückt. Die Verhandlungen zwischen Brüssel und London stocken. Geoffrey Cox, der als oberster Rechtsberater der britischen Regierung ins EU-Hauptqaurtier geschickt worden war, um mit juristischer Spitzfindigkeit und frischem Blick Schwung in die Sache zu bringen, ist erfolglos zurückgekommen. Im Parlament wurde Cox, nachdem der äußerst selbstbewusste Mann hinter den Brüsseler Kulissen als "ahnungslos in EU-Rechtsfragen" bezeichnet und seine Vorschläge als "naiv" bewertet worden waren, eher ausgelacht als bedauert.

Die Abgeordneten machten - in Anspielung auf das Dinner, das Cox und EU-Chef-Verhandler Michel Barnier eingenommen hatten - Witze über das codpiece von Cox und was wohl darin stecke. In dem Wort codpiece (Hosenlatz) steckt cod für Kabeljau, und Cox entblödete sich nicht, zu antworten, es komme nicht darauf an, was in seinem Hosenlatz stecke, sondern ob darin alles in Ordnung sei.

Nun, das ist es nicht. Knapp zwei Wochen vor dem verabredeten Austrittsdatum ist London in eine politische Depression verfallen; ein Dutzend Möglichkeiten, was zu tun sei, wurden am Wochenende durchgespielt, während die Regierung immer wieder darauf hinwies, dass nicht alles verloren - und die Regierungsmaschine von May startklar sei, falls es doch noch einen Durchbruch gebe und sie schnell über den Kanal fliegen müsse.

Die Sonntagszeitungen deklinierten schon mal alle Eventualitäten durch: von Mays Rücktritt über eine Verschiebung des Brexits ins nächste Jahr bis zu einem Deal, den May den Abgeordneten selbst anbieten könnte: Ihr stimmt am Dienstag für den Austrittsvertrag, und ich setze dafür in einigen Monaten ein zweites Referendum an, in dem dann das Volk über diesen Deal oder einen Verbleib in der EU abstimmen könnte.

Das einzige, was vorliegt: Mays Deal vom Januar

Die Hardliner in der Regierung haben, ebenfalls via Sonntagszeitung, derweil signalisiert, dass die vorliegende Version des Vertrags nicht gut genug sei. Der Sunday Telegraph schiebt genüsslich nach, dass Umfragen belegten, die Briten hätten genug von dem Gezerre - und knapp die Hälfte aller Befragten sei mittlerweile sowieso für einen Abschied ohne Deal.

Es gibt zwar auch ganz andere Umfragen, nach denen Dreiviertel der jungen Wähler für den Verbleib in der EU seien (dies zitiert wiederum der Guardian).

Aber all das ist Spekulation. Denn was bisher einzig vorliegt, ist genau der Deal, den May im Januar schon einmal zur Abstimmung gestellt hatte. Damals hatte sie mit 432 Gegenstimmen (bei 202 Ja-Stimmen) eine dramatische Niederlage eingesteckt. Alle Auguren sagen ihr, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, für diesen Dienstag erneut eine Niederlage im dreistelligen Bereich voraus.

Die prominenteste Stimme der Brexiteers, Jacob Rees-Mogg, stimmte die Briten im Sunday Express so auf die Woche ein: Der "grottenschlechte Deal" von May bedeute, dass Großbritannien im schlimmsten Fall die EU nie wirklich verlässt. Klar, dass er mit Nein stimmen wird.

Das Problem liegt also nach wie vor in der Zementierung der Lager, die bisher eine innerbritische Einigung auf einen Austrittsvertrag und eine Vision der künftigen Beziehungen zur EU unmöglich gemacht haben. Offiziell drehen sich die Verhandlungen jetzt um juristische Fragen - aber auch diese müssten letztlich politisch beantwortet werden.

Denn: Nur wenn die Briten vor Ende der Übergangsphase, die sich an den 29. März anschließen soll, einen Vertrag über die künftigen Beziehungen schließen, der auf Dauer eine harte Grenze auf der irischen Insel vermeidet, würde der sogenannte "Backstop" wegfallen. Dieser sieht vor, dass Nordirland faktisch weiter in Zollunion und Binnenmarkt bleibt, bis es eben diesen neuen Vertrag gibt.

Ob dann in drei oder fünf oder zwölf Jahren (oder wie auch immer lange diese Gespräche dauern würden) am Ende eine gemeinsame Zollunion stünde, oder ein an Norwegen, Island, Liechtenstein und die Schweiz angelehntes Modell einer Freihandelszone, oder ein eher loses Freihandelsabkommen - darüber ist bisher noch nicht einmal in Ansätzen geredet worden.

Gut möglich, unken nun viele europaskeptische Abgeordnete, dass dieser zweite, ungleich wichtigere Vertrag zwischen Brüssel und London ewig nicht fertig wird - weil die EU den Briten womöglich einen fairen Kompromiss verweigert. Ein letzter Vorschlag Ende vergangener Woche von Michael Barnier, die Briten könnten ja ihre eigene Idee von der Zollunion ganz Großbritanniens mit der EU kassieren und nur Nordirland darin belassen, wurde in London als "Unverschämtheit" quittiert. Barnier verwahrte sich dagegen, dass jetzt Brüssel die Schuld zugeschoben werde.

Sein Vorschlag bezog sich auf einen Teil des Austrittsvertrags, den May einst selbst verhandelt hatte: Solange es den Deal über die künftigen Beziehungen nicht gibt, bleibt nicht nur Nordirland praktisch in der EU, sondern auch das ganze Königreich in der Zollunion. So hatte es Theresa May gewollt, sehr zum anfänglichen Erstaunen der EU-Kommission.

Bei der Zollunion hat May sich verkalkuliert

Mays Überlegung war: Nur wenn das ganze Land in der Zollunion bleibt, bis der zweite Vertrag fertig ist, wird Nordirland nicht anders behandelt als der Rest des Königreichs, wird also nicht quasi politisch und wirtschaftlich abgespalten von England, Schottland und Wales. Denn einer solchen Lösung könne eine britische Premierministerin niemals zustimmen, das hat May wieder und wieder betont. Also handelte sie eine Gesamtlösung aus - gepaart mit der vertraglichen Zusage, dass Brüssel und London alles tun werden, um möglichst schnell diesen zweiten Vertrag zu stemmen.

Aber May hat sich verkalkuliert. Den Hardlinern unter den britischen Brexiteers reicht es nicht, dass May einen Deal für das ganze Königreich ausgehandelt hatte - vermutlich war sie in dem Glauben, dass in dem Fall die nordirische DUP, die ihre Mehrheit im Unterhaus sichert, für den Austrittsvertrag stimmen würde.

Die DUP und ein Teil der Europafeindlichen unter den Tories fordern jetzt, vor dem Austritt, zusätzlich und trotzdem, dass Brüssel ihnen erlaubt, den Backstop einseitig zu beenden oder zu befristen. Weil sie fürchten, "auf ewig in der Zollunion gefangen zu sein", solange es nach dem EU-Austritt keinen neuen Vertrag mit der EU gibt.

Wie es weitergeht? Kaum jemand weiß es. Ein verzweifelter Minister sagte zur BBC-Reporterin Laura Kuenssberg am Samstag: "Wir sind jetzt in der Was-zum-Teufel-sollen-wir-bloß-machen-Phase."

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SZ vom 11.03.2019/gal
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