Brexit:So wird der Chef der Brexit-Kampagne im TV gegrillt

Brexit: Michael Gove kam bei der TV-Debatte oft ins Schlingern.

Michael Gove kam bei der TV-Debatte oft ins Schlingern.

(Foto: AFP)
  • Brexit-Kampagnenchef Michael Gove muss sich im britischen Fernsehen den Vorwurf der Lüge gefallen lassen.
  • Gove kann keinen einzigen Unterstützer aus der Wirtschaftswissenschaft nennen.
  • Ein Mann aus dem Publikum fasst Goves Aufritt bestechend gut zusammen.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Nur einen Namen bitte, einen einzigen. Eine Wirtschaftsorganisation, einen Verband, der "Ihren Traum teilt", die Europäische Union zu verlassen. Faisal Islam will das wissen. Er ist der Moderator der zweiten großen Fernsehdebatte zum EU-Referendum in Großbritannien.

Am Donnerstag war es Premierminister David Cameron, der sich von Islam, aber vor allem von einer jungen Literatur-Studentin grillen lassen musste. Am Freitagabend ist Camerons Parteifeind und Justizminister Michael Gove dran, der die Pro-Brexit-Kampagne "Leave" leitet.

Der Moderator weiß, dass Gove auf seine Frage keine Antwort hat. Es gibt keine Wirtschaftsorganisation, die Goves Leave-Kampagne stützt. Gove wankt hierhin, dann dorthin, erzählt, dass sich die Experten schon früher geirrt hätten, dass sie den globalen Crash 2008 nicht vorhergesagt hätten. (Was so nicht stimmt, es hat nur kaum einer auf sie gehört.)

Na gut, da sind schon welche, sagt Gove dann überraschend. Genauer wird er nicht. Ein Fehler. Islam grätscht hinein: "Wir haben nichts von denen gehört. Sind die schüchtern? Sie könnten doch mal Hallo sagen."

Gove wirkt angefasst

Islam sagt, was inzwischen viele seiner Zuschauer denken dürften: Der Brexit, das ist "eine komplizierte Sache". Da halten die Menschen "Ausschau nach Expertise, nach Experten. Wir schauen auf unsere Alliierten, die mit uns in den Krieg gezogen sind. Nennen Sie mir einen Namen."

Gove setzt an: "Eines der Probleme ist..."

Islam: "Dann nennen Sie mir einen halben Unterstützer. Donald Trump vielleicht? Würden Sie auf Donald Trump zählen?"

Es reicht Gove jetzt, er wirkt angefasst. "Die Sache mit all diesen Leuten ist. Sie haben keine Stimme in diesem Referendum." Für Trump mag das stimmen. Für die britischen Wirtschaftsexperten sicher nicht.

Hunderte von Wirtschaftswissenschaftlern sagen, Gove liege falsch

Islam zählt sie auf: die Bank of England, den Chef des nationalen Gesundheitssystems, alle Wirtschaftsverbände, alle wichtigen Wirtschaftsnationen der Welt, Hunderte von Wirtschaftswissenschaftlern. Und so weiter. Alle sagen, Michael Gove und seine Mitstreiter liegen falsch. Warum sollten die Menschen ihm also mehr vertrauen als diesen Leuten?

Goves Antwort: "Ich sage nicht, die Leute sollen mir vertrauen. Ich sage, die Leute sollen sich selbst vertrauen." Das ist bezeichnend für Gove, bezeichnend für die gesamte von ihm geführte Leave-Kampagne.

Laxer Umgang mit Zahlen

Er setzt nicht auf Fakten, auf Daten. Er setzt auf Gefühle. Als er sagt, 35 Millionen Briten würden unter der EU leiden, fragt Moderator Islam, woher er diese Zahl hat. Gove kann keine Quelle nennen. Die EU sei eine Job-Vernichtungs-Maschine, sagt Gove. Beweise fehlen.

Er sei eben auf der Seite der kleinen Leute. Während die anderen, die EU-Befürworter, auf der Seite der Eliten stünden. Er versteigt sich sogar zu der Aussage, dass die britischen Steuerzahler die Kosten für den Privat-Jet von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zahlen müssten. Ein Griff ganz tief in die Kramkiste der Populisten.

Islam kann das kontern. Auch die Regierung Cameron, der Gove ja angehört, nutze Flugzeuge. Und: Es sei doch seine Regierung gewesen, die den armen Menschen Leistungen gestrichen habe. Warum kritisiert er das nicht? "Stattdessen beschuldigen Sie die Europäische Union. Jedes Problem in diesem Land geht erstmal auf ihre Kappe."

Wie lax die Leave-Kampagne mit Zahlen umgeht, zeigt sich auch an der überall plakatierten und immer wieder betonten Behauptung, die Briten würden jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU zahlen. Die Zahl stimmt nicht, es ist höchstens die Hälfte, wenn der Briten-Rabatt und die Rückzahlungen an die Briten abgezogen werden.

Islam fragt: "In welcher Woche war das, als wir 350 Millionen Pfund an die EU gezahlt haben? War es diese Woche, letzte Woche, in der Weihnachtswoche? In der Osterwoche?"

Einmal wenigstens ist Gove ehrlich

Gove behauptet weiter, es sei so, jede Woche. Und eigentlich ist es noch mehr Geld. Kaum zu fassen. Islam fragt: "Verlässt das Geld das Land?" Gove schwimmt. Es komme ja etwas Geld zurück. Aber das sei ja nicht garantiert. Islam zitiert einen Leave-Unterstützer, der der Kampagne viel Geld gespendet hat: "Es sei nicht klug, zu lügen."

Kann Gove denn garantieren, dass kein Brite seinen Job verliert, wenn das Land aus der EU aussteigt? Hier wenigstens ist Gove einmal ehrlich. Nein, das kann er nicht. Dafür zieht er die Sache ins Lächerliche. Wie viele Briten würden ihre Arbeit verlieren? "Nun, die 73 britischen Mitglieder des Europäischen Parlaments werden ihren Job verlieren. Unser EU-Kommissar wird seinen Job verlieren. Und ich wünsche ihnen viel Glück in der privaten Wirtschaft."

Es mag viele Briten geben, die sich an der Stelle lachend auf ihre Schenkel geschlagen haben. Einer macht das nicht. Andrew Carnegie, ein wohlbeleibter Geschäftsmann mit einem kleinen Unternehmen. Er sitzt im Publikum und hat sich jetzt über eine halbe Stunde angehört, was Gove zu sagen hat.

"Sie haben keine Idee, was an der Frontlinie los ist!"

Seine Frage ist, warum die Leave-Kampagne bisher keinen wirtschaftlichen Plan für die Zeit nach einem Austritt vorgelegt hat. Gove antwortet mit seinen üblichen Floskeln. "Take back Control", das Land müsse nur wieder Kontrolle über sich selbst haben, dann wird es schon werden.

Andrew Carnegie weiß zu deuten, was er gehört hat: "Die Antwort ist, es gibt keinen wirtschaftlichen Plan." Zwei Punkte will er anmerken. Es komme ihm vor, als wolle Gove den Menschen eine Scheidung vorschlagen, die nötigen Gespräche über das Geld aber erst hinterher führen. "Das ergibt keinen Sinn für mich." Und zweitens: "Bei allem Respekt, Mr. Gove", er komme ihm vor wie ein General im ersten Weltkrieg, mit der Flagge in der Hand, der seinen Soldaten in den Schützengräben zuruft: "Over the top!" - hinaus auf das Schlachtfeld. "Aber Sie haben keine Idee, was an der Frontlinie los ist!"

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