Süddeutsche Zeitung

Brexit:Wie die Briten Merkel den Brexit in die Schuhe schieben wollen

Die Briten möchten der EU schon vor Beginn der offiziellen Austrittsverhandlungen Zugeständnisse abschwätzen. Sendet die Bundesregierung ein Signal des guten Willens? Nein, tut sie nicht. Richtig so.

Kommentar von Stefan Kornelius

In Großbritannien macht eine Legende die Runde, gestreut von den Getreuen des vom Hof gejagten David Cameron: Angela Merkel sei schuld am Brexit; wäre sie dem Premier stärker entgegengekommen beim Problem der Arbeitsmigranten, wäre Großbritannien heute noch in der EU.

In dieser These stecken gleich mehrere atemberaubende Behauptungen, die allesamt rubbish sind - Müll, wie es die Briten drastisch ausdrücken würden. Interessant ist das Scharmützel aber dennoch, weil es bereits die nächste Legende vorbereitet: Es werden ausländische Kräfte sein, die ein vernünftiges Management des Brexit verhindern. Tatsächlich gibt es auf der Insel kein anderes Thema als die künftige Orientierung des Landes. Das ist verständlich: Die Briten haben für einen historisch einmaligen Staatsumbau gestimmt, es geht um Arbeit, Wohlstand, sozialen Frieden, Einbettung in der Welt und am Ende um den Bestand des Königreichs selbst.

Weil nicht nur ein paar vernunftbegabte Menschen in Großbritannien in diesem Paket eine Überforderung sehen: Wäre es nicht die verdammte Pflicht der EU, den Briten eine Brücke zu bauen und ihnen vor den Austrittsgesprächen entgegenzukommen, mit dem Ziel, London so eng wie irgend möglich an Europa zu binden?

Es wirkt so als tobe die EU Rachegelüste an Großbritannien aus

Premierministerin Theresa May ist gerade in dieser Mission unterwegs. Sie sucht nach einem Verhandlungskorridor, den ihre Regierung ansteuern könnte. Wie also soll die Balance aussehen zwischen den vier großen Freiheiten der EU (Grenzenlosigkeit bei Handel, Dienstleistungen, Finanzen und Arbeitsmarkt) und dem britischen Bedürfnis nach Abschottung?

Wieder gehen die Blicke nach Berlin: Zuckt die Bundesregierung? Sendet sie ein Signal des guten Willens aus? Nein, tut sie nicht - und sie sollte es auch nicht tun. Genauso wenig dürfen andere Mitglieder der Europäischen Union auf die Sirenengesänge hören. Das mag so wirken, als tobe die EU Rachegelüste an einem Land aus, das 40 Jahre lang in der Regel auf Kosten der Gemeinschaft gelebt hat.

Tatsächlich wäre den Briten wie der Rest-EU aber am besten gedient, wenn klare Verhältnisse herrschten. Eine Mauschelei um Rechte und Bindungen birgt eine Gefahr für die EU, sie infiziert die Gemeinschaft mit dem Selbstzerstörungsvirus, das auch Cameron nicht besiegen konnte. Wer einen eigenen EU-Zugang für London zimmert, muss den nächsten für Budapest und Bratislava und Lissabon bauen.

In den Supermärkten steigen die Preise, das Pfund fällt

Theresa Mays Macht ist nicht gefestigt. Hinter der harten Fassade findet sich eine leicht verletzbare Regierungschefin, deren Partei gespalten ist, und die ihr bisschen Sicherheit aus der grotesken Selbstverstümmelung der Opposition bezieht. Hätte Großbritannien eine vernünftige, proeuropäische Partei, dann könnte sich May nicht auf "Brexit heißt Brexit" reduzieren. Die lächerliche Formel kaschiert die Panik nur noch unzureichend.

Den Höhepunkt des Selbstbetrugs haben die Briten wohl auf dem Tory-Parteitag erlebt. Jetzt kommt die Phase der bitteren Entscheidungen. In den Supermärkten steigen die Preise, das Pfund fällt, die Exportwirtschaft sucht nach dem Absprung, die Finanzindustrie bestellt die Umzugswagen. Der eigentliche Schock steht dem Land noch bevor: wenn die Austritts-Verhandlungen offiziell beginnen.

Den harten Schnitt kann London niemand abnehmen. Nur die offizielle Mitteilung des Austritts schärft den Blick auf die Optionen. Nur die Unbarmherzigkeit der Sanduhr - für Verhandlungen gibt es exakt zwei Jahre - kann den nötigen Druck erzeugen, der am Ende zu einer belastbaren Beziehung mit der Europäischen Union führt. Alles andere hätte den gegenteiligen Effekt: Die EU würde hinabgezogen in den Strudel der britischen Innenpolitik. Vor diesen Kräften sollte man sich hüten.

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SZ vom 20.10.2016/dayk
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