Süddeutsche Zeitung

Brexit:Selbst Straßensperren sind möglich

  • Gegen die vom britischen Premierminister Boris Johnson angeordnete Parlamentspause vor dem Brexit-Datum formiert sich Widerstand.
  • In Edinburgh und London laufen Verfahren gegen das Vorgehen, an denen sich sogar Tories beteiligen.
  • Die Opposition ruft zu zivilem Ungehorsam auf.

Von Cathrin Kahlweit, London

Einen ersten, schweren Dämpfer im Kampf gegen den kompromisslosen Kurs von Boris Johnson haben seine Gegner schon am Freitag bekommen: Das schottische Gericht, vor dem eine Gruppe von 75 Abgeordneten gegen die am Mittwoch verkündete zeitweilige Schließung des Parlaments geklagt hatte, hat in einer wegen Dringlichkeit vorgezogenen Anhörung kein schnelles Urteil fällen wollen. Der Richter sagte, er wolle erst alle Argumente hören; das Verfahren soll nun Mitte nächster Woche weitergehen.

Dann bleiben den Abgeordneten aber nur noch wenige Tage, bevor sie in die Zwangspause müssen - es sei denn, das Parlament beschließt, seine Sitzungswoche, die üblicherweise Donnerstagnacht endet, bis ins Wochenende hinein fortzusetzen. Das wird derzeit heiß diskutiert, und das Kalkül ist: Jede Minute zählt, in der ein Gesetz durch Unter- und Oberhaus gepeitscht werden kann, mit dem der No Deal, der harte Brexit, eventuell noch gestoppt werden könnte.

Selbst Tories klagen gegen Johnson

Aber im Streit um den Brexit, den Premierminister Boris Johnson seit seinem Amtsantritt im Juli "ohne Wenn und Aber" betreibt, geht es in diesen Tagen Schlag auf Schlag. Kurz nach der Nachricht von einer vorläufigen Niederlage der Brexit-Gegner in Edinburgh wurde in London bekannt, dass sich der ehemalige Premierminister John Major - immerhin ein Tory, aber auch ein vehementer Gegner des vertragslosen Austritts -, der Klage der Unternehmerin Gina Miller angeschlossen hat, die diese vor einem Londoner Gericht in derselben Sache eingebracht hatte. Die Politaktivistin und Brexit-Gegnerin Miller hatte nach dem Referendum 2016 vor Gericht durchgesetzt, dass Downing Street den Austritt nicht ohne eine Beteiligung des Parlaments erzwingen darf. Folge dieses früheren Verfahrens ist es, dass das Unterhaus seither den Anspruch auf einen "meaningful vote" hat, auf formelle Mitsprache.

Doch genau diesen Anspruch sehen viele Abgeordnete gefährdet durch die fünfwöchige Zwangspause, die Downing Street den Abgeordneten von Mitte September an von der Queen verordnen ließ. Von der übernächsten Woche an, zwischen dem 9. und 12. September, soll die sogenannte Prorogation (Vertagung) einsetzen, die erst am 14. Oktober endet mit der Queen's Speech, der traditionell von der Monarchin vorgetragenen Regierungserklärung. Die Entscheidung, ob Premier Johnson seinen Fahrplan ungehindert umsetzen kann, dürfte daher in den kommenden Wochen fallen - davon geht man in Westminster allgemein aus. Denn nach der Queen's Speech sind traditionell mehrere Tage Debatte über die Regierungserklärung vorgesehen, und dazwischen liegt ein EU-Gipfel. Es bliebe also kaum Zeit, die Sache noch zu drehen, sollte bis dahin kein Kompromiss mit Brüssel gefunden sein, der sowohl Remainer als auch Brexit-Hardliner im Parlament zufriedenstellt.

Die EU ist bisher wenig beeindruckt

Boris Johnson selbst war am Freitag, nachdem er zu dem Empörungssturm über die Prorogation hinweggeschwiegen hatte, in die Offensive gegangen. Denen, die ihn aufzuhalten versuchten, werde das Volk "nicht vergeben", sagte er. Er versicherte, seine Regierung werde jetzt Geschwindigkeit und Intensität der Verhandlungen mit Brüssel erhöhen, um vor dem 31. Oktober noch zu einem Deal zu kommen. Man werde von nun an zweimal pro Woche mit der Gegenseite in Brüssel zusammenkommen. "Wir wissen, wie wir den Brexit hinkriegen", sagte Boris Johnson; das Parlament aber, das sich jetzt über seine Suspendierung beschwere, habe drei Jahre Zeit zum Debattieren gehabt - und doch nichts hinbekommen.

Seinen obersten Unterhändler, David Frost, hatte Johnson schon zu Beginn der Woche zur EU geschickt. Dort ist man bislang wenig beeindruckt. Die Tür sei offen, heißt es aus dem Team des EU-Brexit-Chefunterhändlers Michel Barnier, aber man warte "immer noch auf konstruktive Vorschläge" aus London. Bisher sind solche offenbar nicht eingegangen.

Die Oppostion will zivilien Ungehorsam

In Brüssel geht man davon aus, dass Johnsons Vorgehen vor allem seine konservative Klientel daheim beeindrucken soll. Die vom britischen Premier geäußerte Überlegung, er habe mehr Verhandlungsspielraum gegenüber der EU, wenn ihm das Unterhaus nicht ins Handwerk pfusche, werde in Brüssel als "Unsinn" zurückgewiesen, so berichtete die BBC-Korrespondentin Katja Adler. Weil Johnson, bislang zumindest, zwar beständig von einem Deal spricht, aber keine neuen Ideen einspeist, die den von den Brexiteers verhassten Backstop auf verlässliche und auch für Brüssel akzeptable Weise ersetzen würden, gehen Fans und Feinde eines No Deal derzeit davon aus, dass Johnson mit dem Crash kalkuliert.

Die Opposition plant neben juristischen und gesetzlichen Interventionen auch Demonstrationen in zahlreichen britischen Städten. Momentum, die Linke von Labour, hat die Bürger am Freitag aufgefordert, in den kommenden Tagen wichtige Straßen und Brücken zu besetzen und den Verkehr lahmzulegen, um so den Protest gegen einen No Deal in die Öffentlichkeit zu tragen. Es sei jetzt an der Zeit für "zivilen Ungehorsam". Der erzkonservative Telegraph kommentierte, die Labour-Führung und ihre "militanten Unterstützer" wollten "Chaos säen" und "die demokratisch gefallene Entscheidung des Volkes unterminieren, die EU zu verlassen".

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SZ vom 31.08.2019
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