Brexit-Referendum:Voller Angst in die historische Katastrophe

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Die Briten haben sich für den Rückzug entschieden statt für offensive Veränderung. Das ist eine Antwort aus dem falschen Jahrhundert - der Brexit bringt die innere Balance der Union ins Wanken.

Kommentar von Stefan Kornelius

Auf der imaginären Bedeutungsskala wichtiger Nationen dieser Erde hat sich Großbritannien gerade weit nach hinten katapultiert. Seltsam: Diesem Land, dem seine eigene Größe und historische Relevanz nie fremd war, scheint jeder Instinkt abhandengekommen zu sein. Ausgelöst von einem simplen, innerparteilichen Machtkampf, angereichert durch schlecht begründete Ängste, angefeuert von Lügen und populistischen Ressentiments hat sich Großbritannien verabschiedet aus dem Konzert der Mächte und einem Experiment ausgeliefert: Wie schrumpfe ich mich in die Bedeutungslosigkeit, wie ruiniere ich meine Volkswirtschaft, wie mache ich mich zum Gespött der Welt?

Die Briten haben all das mit einer einzigen Abstimmung geschafft, jenem simplen In- oder Out-Votum, das ehrlich gesagt, eine Spur zu einfach ist, um der Größe und Komplexität dieses Themas gerecht zu werden. Wieder einmal hat sich also gezeigt, dass gerade beim Thema Europa ein Funke reicht, um ein flammendes Inferno auszulösen. Nein, die Briten haben wahrlich nicht über irgendwelche Richtlinien oder Kommissionsbefugnisse abgestimmt, sie haben über ihre ureigenen Ängste in einer globalisierten Welt votiert und sich dafür entschieden, mit diesen Ängsten lieber alleine fertigwerden zu wollen. Rückzug statt offensive Veränderung - es ist eine Antwort aus dem falschen Jahrhundert.

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Die Briten entscheiden sich für die häusliche Variante

Nun kann man eimerweise Häme über die Briten ausschütten und Verwünschungen ausstoßen - das Votum steht und wird das Land und Europa für die kommenden Jahre hinreichend mit Arbeit eindecken. Anstatt sich mit dieser globalisierten Welt und ihren Gefahren zu beschäftigen - mit dem Freihandel, dem Terror, der Migration und vor allem den starken antidemokratischen Tendenzen überall - entscheiden sich die Briten für die häusliche Variante.

Man muss nicht weit fahren, um die Provinzialität dieser Entscheidung zu erfassen. Spätestens dort, wo die Menschen wirklich existenziellen Problemen ausgesetzt sind, etwa in Syrien, herrscht Entsetzen über diese Weltabgewandtheit. Wie kann man Europa verlassen, das doch seine Stärke und Attraktivität gerade aus dem Zusammenhalt, dem demokratischen Kleber und seiner rechtebasierten Ordnung bezieht. Großbritannien verlässt ein System, das sich viele wünschen.

Ein eindeutiges Signal an wankelmütige Mitglieder

Für die EU ist diese Entscheidung der Briten eine historische Katastrophe. Die Union erleidet ihre erste wirklich schmerzhafte Niederlage und trägt von nun an das Schwäche-Siegel auf der Stirn. Ihre innere Balance gerät ins Rutschen, das Signal an allemal wankelmütige Mitglieder könnte eindeutiger nicht sein. Besonders in Deutschland sollte dieser Austrittswunsch alle wachen Geister wecken. Eine Europäische Union ohne Großbritannien weckt bei vielen Nachbarn uralte Ängste vor der deutschen Dominanz, es wird zu seltsamen Verhinderungsallianzen führen und das Geschäft von Geben und Nehmen im Verbund von 27 Nationen nicht erleichtern.

Wer jetzt von großen europäischen Visionen träumt und die Chance auf den lange ersehnten Integrationsschub sieht, der sollte weiter schlafen. Europa ist erschüttert, es wird die Kraft zum Weiterwachsen erst einmal nicht aufbringen. Wichtig ist, dass sich Deutschland und Frankreich zusammentun in einem Signal der Kontinuität. Osteuropa will sicherheitspolitischen Rückhalt, der Süden braucht ökonomische Hilfe. Deutschland muss jetzt geben, wenn es nicht alles verlieren will. Anders als offenbar in Großbritannien war die EU für Deutschland immer eine historische Notwendigkeit. So sehr die Enttäuschung über die geschichtsfremde britische Entscheidung nun sein mag, sie sollte nicht verdecken, dass die Gemeinschaft der Staaten Europa stark und sicher gemacht hat.

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