Süddeutsche Zeitung

Brexit-Verhandlungen:Tränen auf der Toilette

  • Die britische Premierministerin Theresa May wirbt derzeit um die Stimmen der Opposition zu ihrem Austritts-Deal.
  • Sollten die Verhandlungen scheitern, wollen zwei Parlamentarier einen No-Deal-Brexit mit einem neuen Gesetz verhindern.
  • Der Druck auf alle Beteiligten wächst unterdessen stetig.

Von Cathrin Kahlweit, London

An diesem Freitag sitzen die Abgeordneten ausnahmsweise mal nicht zusammen; sie haben sich nach Monaten des Irrsinns, für die sie durchaus mitverantwortlich sind, wahrlich ein langes Wochenende verdient. Üblicherweise sind britische Parlamentarier an Freitagen in ihren Wahlkreisen oder daheim; das lange Wochenende ist ihnen heilig.

Aber am vergangenen Freitag hatte Premierministerin Theresa May das Unterhaus unvermutet zusammengerufen, um ein drittes Mal über den Vertrag mit der EU abzustimmen. Als sie dafür ein drittes Mal ein Nein erntete, kündigte die für die Beziehungen zum Parlament zuständige Ministerin umgehend an, wahrscheinlich würden nun auch die Osterferien gestrichen. Es ist dies nur ein Indiz mehr dafür, dass in London niemand mit einer baldigen Einigung rechnete - und rechnet.

Alle Beteiligten stehen unter unerträglichem Stress

Eine Labour-Mitarbeiterin verschickte daraufhin am Mittwoch prompt einen kleinen Erfahrungsbericht darüber, wie oft sie erschöpfte Kollegen weinend auf Toiletten antrifft, dass viele Abgeordnete Tabletten nehmen oder stark an Gewicht verloren hätten, weil der Stress, der auf allen Beteiligten in Westminster lastet, mittlerweile unerträglich sei.

Aber ohnehin sind die Tage bis zum Wochenende diesmal für May und Jeremy Corbyn reserviert; die Premierministerin und Tory-Parteichefin sowie der Labour-Vorsitzende hocken - offiziell - seit Mitte der Woche zusammen, um einen Ausweg aus dem Brexit-Dilemma zu finden. Wenn man Insidern allerdings glauben darf, dann saßen sie am Donnerstag nicht in persona am Verhandlungstisch, sondern hatten Mitarbeiter und Experten geschickt, um, wie es hieß, "technische Fragen" zu klären.

Ein Gesetz mit knapper Mehrheit

Das stimmte die britischen Medien nicht sehr hoffnungsfroh, die bereits nach dem ersten Treffen von May und Corbyn berichtet hatten, eine Annäherung werde mehr als schwierig. May bestehe, ungeachtet ihrer Ankündigung vom Dienstag, auf die Opposition zugehen wollen, auf ihrem Deal und könne sich nicht für eine Zollunion erwärmen, Corbyn wiederum fürchte sich vor dem Druck der Basis, wenn er dem Tory-Brexit als Geburtshelfer zur Seite stehe. Die Times titelte am Donnerstag: "Premierministerin klammert sich an einen Strohhalm, während die Zeit bis zum Brexit zusammenschrumpft." Aber May und Corbyn, so das Blatt weiter, seien einfach zu weit auseinander für einen Kompromiss.

Alles wie gehabt, also? Nicht ganz. In der Nacht zum Donnerstag, kurz vor Mitternacht, stimmten die Abgeordneten mit genau einer Stimme Mehrheit für ein Gesetz, das die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper und ihr Tory-Kollege Oliver Letwin kurz vorher eingebracht hatten. Das Gesetz durchlief am Mittwoch alle drei nötigen Lesungen, wobei Regierung und Brexiteers das Projekt mit zahlreichen Änderungsanträgen zu torpedieren versuchten - vergeblich.

Beschlossen wurde nun also Folgendes: Sollte es bis zum 12. April - der Deadline der EU - keinen Beschluss des Unterhauses geben, müsste May trotzdem in Brüssel für eine Verschiebung des Austrittsdatums über diesen Termin hinaus bitten, um so einen vertragslosen Brexit, einen No Deal, zu vermeiden. Die Länge der Verschiebung stünde May frei, aber sie müsste diese dem Parlament zur Zustimmung vorlegen. Eine Konsequenz der Vorlage: Sollte die EU-Kommission eine Verschiebung des Austritts verweigern, weil das etwa eine Teilnahme des Königreichs an den Europawahlen bedeuten würde, müsste May folgerichtig eine Absage des Brexits betreiben.

Artikel 50, mit dem der eigentlich auf zwei Jahre angelegte Austrittsprozess im März 2017 in Gang gesetzt worden war, kann vom Königreich ohne Zustimmung aus Brüssel widerrufen werden.

May könnte ihre eigenen indikativen Voten abhalten lassen

Das Cooper-Letwin-Gesetz muss noch vom Oberhaus debattiert werden; es könnte, wenn alles glatt geht, am Montag in Kraft treten. Brexit-Minister Stephen Barclay wurde am Donnerstag aber nicht müde zu betonen, dass damit, anders als viele Abgeordnete glaubten, No Deal keinesfalls ausgeschlossen sei. Tatsächlich ist zum einen nicht gesagt, dass die EU einer weiteren Verlängerung zustimmen würde. Zum anderen würde es Tage dauern, bis ein entsprechender Meinungsfindungsprozess - Mays Vorschlag, Debatte und Beschluss über einen Zeitplan im Unterhaus, Anfrage in Brüssel - abgeschlossen wäre. Doch am kommenden Freitag ist Brexit-Tag, und No Deal wäre die Konsequenz, wenn das Prozedere, das ihn verhindern soll, bis dahin nicht beendet ist.

Und dann ist da noch die Idee von Theresa May, dass sie das Parlament um Vorschläge bitten könnte, wenn sie sich mit Corbyn nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen kann. Solche indikativen Voten hatte das Unterhaus zuletzt in Eigenregie betrieben, bisher sehr zum Missfallen der Downing Street. Jetzt sieht May in ihnen einen weiteren Rettungsanker für den verfahrenen Prozess.

Allerdings weiß auch sie: Bisher gab es für keinen Vorschlag eine Mehrheit. Der Brexiteer Mark Francois, ein ewig wütender Mann von sehr simplem Gemüt, hatte wohl ausnahmsweise recht, als er im Unterhaus mitten in der Nacht brüllte: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

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SZ vom 05.04.2019/csi
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