Brexit:Nur ein Schluck von der Milch der Menschenliebe

600 Seiten Hasskommentare: Mit einer radikalen Performance greift der gefeierte britische Künstler Chris Thorpe in die Brexit-Debatte ein. Hat er den Glauben an seine Landsleute verloren?

Porträt von Thorsten Denkler, London

Chris Thorpe muss sich kurz mal sammeln. "Ich versuche wirklich, das mit Würde vorzutragen", sagt er. Er sitzt auf der Bühne des Royal Court Theatre im Londoner Stadtteil Chelsea. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Stapel Papier, daneben ein aufgeklappter Laptop. Hinter ihm zeigt eine Videoleinwand einen Artikel auf der Webseite des britischen Boulevardblatts The Sun. Es geht um Hunderte Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrunken sind.

Es sind die Kommentare der Leser, die Thorpe interessieren. Er liest weiter. "Diese Illegalen haben internationales Recht gebrochen, als sie versuchten, über das Mittelmeer zu kommen. Der Grund für ihren Tod ist ihre Gier. Ich habe keine Sympathien für diese Illegalen."

Stille im Saal.

Der nächste Kommentar: "Füttert weiter die Fische. Das hält die Parasiten fern."

Ein Schlucken ist zu hören.

In den Pausen zwischen zwei Sätzen kaut Thorpe endlos lang auf seiner Zunge herum. Jedes Sonderzeichen liest er mit, jedes Ausrufezeichen, jedes Anführungszeichen, jedes Verwenden der Feststelltaste, mit der die Wörter in Großbuchstaben geschrieben werden. Sonderzeichen sind die Streubomben der Internetpöbler. Ihre nächste Waffe wird am 23. Juni der Stimmzettel sein. Es ist quälend.

Sechs Stunden liest Thorpe vor, 600 ausgedruckte Seiten liegen vor ihm. Es sind Kommentare zu Artikeln, in denen es um die Angst eines Polizeichefs vor kriminellen Migranten geht, um Mütter, die aus Sorge um die Sicherheit ihrer Kinder für den Brexit stimmen, um Migranten und um die EU.

Sechs Stunden voller Hass-Posts und Verschwörungs-Müll. Und manchmal in diesen sechs Stunden verliert Thorpe selbst die Fassung ob des geballten Irrsinns, den er da vorträgt. Dann muss er ein Lachen unterdrücken. Oder sein Entsetzen. Und doch, es ist ihm wichtig, will er das alles mit Würde vortragen.

Thorpe hat seiner Performance den Namen "Milk of Human Kindness" gegeben. Shakespeare, natürlich. Macbeth, 1. Akt, 5. Szene. Wie passend. Lady Macbeth liest einen Brief, in dem ihr der Schreiber berichtet, für höchste politische Ämter auserkoren worden zu sein, als Thane von Cawdor. Macbeth glaubt nicht, dass er der Richtige dafür ist:

"Doch fürcht' ich dein Gemüt, es ist zu voll von Milch der Menschenliebe (...) Bist ohne Ehrgeiz nicht, doch fehlt die Bosheit / die ihn begleiten muss."

Der Wahlkampf ist so dreckig wie die Kommentare, die Thorpe vorliest

Am 23. Juni müssen die Briten darüber entscheiden, ob sie in der EU bleiben wollen. Ihre Thanes, ihre führenden Politiker, machen es ganz im Sinne von Macbeth, ohne diese ganze Milch der Menschenliebe. Sie gehen im Wahlkampf mit äußerster Härte gegeneinander vor, bezichtigen sich der Lüge und der Unehrlichkeit. Es ist ein brutaler, ein dreckiger Wahlkampf.

So brutal und dreckig wie die Kommentare der Leser, die Thorpe vorliest. Von diesem Tag im Royal Court Theatre an sind es noch gut eineinhalb Wochen bis zum wichtigsten Tag in der jüngeren Geschichte Großbritanniens. Und noch fünf Tage bis zum Mordanschlag auf die Labour-Abgeordnete Jo Cox. Sie hat drei Monate lang Hassmails bekommen. Auch Morddrohungen. Alles dabei. Dann hat sie ein 52 Jahre alter Mann auf offener Straße erschossen.

Es ist nicht klar, was genau seine Motive waren. Ein Rechtsradikaler vielleicht. Psychisch krank womöglich. Aber den Hass hat er in sich. Einen ähnlichen Hass, wie jener, der aus den Kommentaren spricht. Die Botschaft, die in diesen Tagen alle Kommentatoren vereint, lautet schlicht: "Vote out! Vote out! Out, out, out!!!!!" Stimmt für den Brexit.

Der Mörder von Cox soll "Britain first" gerufen haben.

Dann drückte er ab.

Verliebt in die Vorstellung, britisch zu sein

Ein indisches Restaurant in der Drummond Street. Kategorie: gut und günstig. "Da gehen wir rein", sagt Thorpe. "Es ist so wunderbar hässlich." Thorpe bestellt Tee zum Curry.

Christ Thorpe ist ein Theatermacher und Performer. Mit Preisen überhäuft. Ein Europäer, der seine Stücke in Athen, Berlin oder Barcelona spielt. Oder auch drüben auf der anderen Seite des Ozeans in Los Angeles oder Washington.

Aufgewachsen in Manchester lebt er heute in London. In der Theaterwelt gehört er zu den wenigen, die Politik so konsequent auf die Bühne bringen können.

Im vergangenen Jahr hat er die zustimmenden Texte des britischen Finanzministers George Osborne zur europäischen Sparpolitik in ein Theaterstück verwandelt. Begleitet von den ohrenbetäubenden Klängen, die zwei Heavy-Metal-Gitarristen erzeugten. Eine einfache wie wirkungsvolle Idee. Die Presse feiert ihn dafür.

Theater, das hat Thorpe dem Guardian mal gesagt, sei ein "Laboratorium, in dem wir darüber nachdenken, wie wir denken". Im Moment gibt es viel nachzudenken. Der 23. Juni wird ein Schicksalstag für die Briten. Großes Theater. Große Bühne. Wenn die Briten aussteigen, dann ist Drama. Ganz großes Drama. Über Jahre.

Was passiert, "wenn Medien ihre Verantwortung mit voller Absicht ignorieren"

Warum dieses Stück, warum liest er sechs Stunden lang Hass-Kommentare?

Thorpe trinkt von seinem Tee. Er will die Menschen hinter den Kommentaren nicht vorführen, sagt er. Er will zeigen, wie bestimmte Medien das Gegenteil von Diskussion und Dialog fördern. Nämlich einen Wettstreit um die extremsten Positionen. Er will ans Licht bringen, was passiert, "wenn Medien ihre Verantwortung mit voller Absicht ignorieren".

Politiker eifern der Erkenntnis nach, die schon Shakespeare formuliert hat: Zu viel "Milk of Human Kindness" funktioniert in der Politik nicht. Stattdessen bestimmt eine Mischung aus "pathetischem Gefasel und falschen Aggressionen" die Debatte, sagt Thorpe. Eine gefährliche Mischung. Die explosiv wird, wenn - wie jetzt, kurz vor dem EU-Referendum - eine so komplexe Frage auf ein Ja oder Nein reduziert wird.

Was ist los mit den Briten? Was hat es auf sich mit dieser tief sitzenden Sehnsucht nach Unabhängigkeit, nach alter Stärke?

Thorpe denkt nicht lange nach. Er beißt in ein Panipuri, einen kleinen Wasserteig-Ballon. Gar nichts hat es damit auf sich, sagt er. Alles nur Illusion. "Die Briten sind sehr verliebt in die Vorstellung, britisch zu sein", sagt Thorpe. Das Selbstbild von den tapferen, anständigen Briten und ihrem unerschütterlichen Selbstvertrauen erlaubt es ihnen, sich "wie die Eroberer der Welt zu fühlen".

"Go Girls, let's brexit!"

Es gehört zu "unserem nationalen Charakter, dass wir glauben, wir machen schon einen besseren Job irgendwie, wenn wir auf uns allein gestellt sind", glaubt Thorpe. "Dieses Gefühl der Briten, und speziell der weißen Briten, macht es leicht, uns auf dieser Gefühlsebene zu manipulieren."

Genau das passiert gerade in Großbritannien. Die Leave-Bewegung setzt auf das eine große Thema, mit dem sie an den überkommenen Nationalstolz der Briten appelliert: Unabhängigkeit. Gesetze werden in Brüssel über die Köpfe der Briten hinweg gemacht. Sagen sie.

Stimmt zwar so nicht. Aber die Pro-Brexit-Leute haben es nicht so mit Fakten. Sie erzählen die Geschichte, dass es allen Briten besser geht, wenn sie die EU verlassen. 350 Millionen Euro gehen angeblich Woche für Woche an die EU. In Wahrheit ist es kaum die Hälfte.

Die Summe muss für alles herhalten, was im Vereinigten Königreich sanierungsbedürftig ist. Mal das staatliche Gesundheitssystem NHS, mal die Kinderkrippen. Ein anderes Mal der Straßenbau oder die öffentlichen Verkehrssysteme. "Take back control" lautet der Slogan der Leave-Kampagne. Sie wollen sich die Kontrolle zurückholen. Wollen wie ihre seefahrenden Vorfahren selbst bestimmen, wann und wo sie die Anker lichten.

Thorpe erklärt, was diese Manipulation mit den Menschen macht. Sie "lässt uns die simple Wahrheit ignorieren, dass die Welt so nicht mehr funktioniert. Und dass es ganz allgemein gut für uns ist, mit vielen anderen Menschen zusammenzuarbeiten, die wollen, dass es der Welt besser geht."

Was macht Thorpe, wenn es zum Brexit kommt? Einen Schluck Tee noch. Die indischen Kellner räumen die Reste ab.

Das Land verlassen, vielleicht. "Ich möchte nicht auf einer Insel leben mit Leuten, die glauben, dass sie was Besseres sind."

Das alles könnte lustig sein. Ist es aber nicht

Sagt er das nur so? Will er wirklich dem Königreich den Rücken zukehren? Er nickt: "Ich bin vollkommen bereit, den Stolz auf meine Herkunft zu begraben, um dafür Teil einer Gemeinschaft zu werden, die möglichweise in der Lage ist, die Menschlichkeit voranzubringen."

Die Menschlichkeit voranbringen. Da ist sie wieder, die "Milk of Human Kindness". Shakespeares Lady Macbeth stirbt am Ende des Stückes. Und das Land wird befreit von der Tyrannei ihres Mannes, der auch sterben muss. Im Theater ist es so einfach. Die Guten gewinnen, wenn der Autor es will.

Auf dem Stuhl im Royal Court Theatre liest Thorpe aus dem wahren Leben vor: "Wir brauchen keine europäischen Menschenrechte. Wir brauchen britische Rechte. Vote Out!" Oder hier: "Es gibt nur zwei Fragen, die sich jeder in diesem Referendum stellen sollte. 1. Will ich in einem freien demokratischen Land leben? 2. Will ich in einer kommunistischen Diktatur leben? Ist die Antwort 1: LEAVE. Ist die Antwort 2: STAY."

Das wäre alles ganz lustig. Wenn die EU-Befürworter klar in Führung wären. Sind sie aber nicht. In jüngsten Umfragen steht es Spitz auf Knopf. Thorpe liest: "Go Girls, let's brexit!"

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