Süddeutsche Zeitung

Nordirland:Was der Bruch des Protokolls bedeutet

Boris Johnson hat immer eins versprochen: dass er den Brexit durchzieht. Das ist lange nicht geschafft, wie sich jetzt zeigt: Nordirland stoppt die Grenzkontrollen in der Irischen See - und wirft damit eine ungelöste Frage wieder auf.

Von Björn Finke, Brüssel, und Michael Neudecker, London

Einer der vielen Slogans, mit denen Boris Johnson gerne um sich wirft, lautet "Get Brexit done". Vor allem jetzt, da seine Zukunft als Premierminister wegen all der Partys und Anschuldigungen ungewiss ist, wiederholt Johnson bei jeder Gelegenheit, seine Regierung sei diejenige, die den "Brexit erledigt" hat. Doch davon, dass der Brexit "erledigt" wäre, war das Vereinigte Königreich schon vor diesem Donnerstag weiter entfernt, als Johnson und manche seiner Wähler wahrhaben wollen. Und dann wurde die Entfernung noch größer.

Paul Givan, Erster Minister und also Chef der Regionalregierung in Nordirland, verkündete am Abend seinen Rücktritt, und zwar aus Protest gegen das seiner Meinung nach nicht funktionierende sogenannte Nordirland-Protokoll. Dies beeinflusse das "empfindliche Gleichgewicht" des Friedens auf der irischen Insel. Wenige Stunden zuvor hatte Edwin Poots, der nordirische Landwirtschaftsminister, angeordnet, jegliche Kontrollen von Lebensmitteln, die aus Großbritannien kommen, einzustellen - was einen Bruch des Nordirland-Protokolls bedeutet.

Für Boris Johnson sind Wortungetüme wie "Nordirland-Protokoll", wie es ein Kenner der Szene in Westminster neulich formulierte, Auswüchse politischer Kleinkrämerei. Nur, am Donnerstag war nun besonders deutlich zu sehen, dass die Lage in Nordirland eines der zentralen Probleme des Brexit ist und bleibt, auch mehr als fünf Jahre nach dem Referendum. Ein Problem zumal, das kaum lösbar zu sein scheint. Für Johnsons Brexiteers einerseits ist eine harte Grenze zur EU ein Prinzip, ohne das der Brexit nicht viel Sinn ergäbe. Eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland könnte aber, andererseits, neue Unruhen in der Region hervorrufen, und deshalb ist 2019 das Nordirland-Protokoll beschlossen worden. Darin steht, dass Waren nicht an der Grenze zwischen Irland und Nordirland, sondern zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland kontrolliert werden sollen.

Givans DUP steht für ein wirklich Vereinigtes Königreich - ohne Grenzkontrollen zwischen den Landesteilen

Vor allem für die nordirische Democratic Unionist Party (DUP) ist das jedoch ein kaum haltbarer Zustand, denn sie, die derzeit eine knappe Mehrheit im nordirischen Parlament stellt, steht für ein wirklich Vereinigtes Königreich. Paul Givan, 40, ist nach turbulenten Monaten für die Partei mit drei verschiedenen Vorsitzenden seit vergangenem Sommer für die DUP Erster Minister. Weil sich die Parteien in Nordirland die Macht teilen und die Republikaner von Sinn Féin bei der letzten Wahl nur hauchdünn hinter der DUP lagen, stellt Sinn Féin in Michelle O'Neill die Stellvertreterin Givans. Tritt einer von beiden zurück, bedeutet das automatisch auch das Ende des anderen, weshalb das Parlament nun ohne Führung dasteht.

Die Entscheidung des wie Givan der DUP angehörenden Landwirtschaftsministers Edwin Poots, die Kontrollen zu stoppen und damit gegen das Protokoll zu verstoßen, nannte Michelle O'Neill einen "Stunt", auch andere Parteien in Nordirland kritisieren das Vorgehen der DUP. Ein Sprecher der EU-Kommission in Brüssel nannte die Entscheidung "nicht hilfreich", denn "sie schafft für die Unternehmen und Bürger in Nordirland weitere Unsicherheit". Die EU-Finanzmarktkommissarin Mairead McGuinness, eine Irin, sagte ihrem Heimatsender RTÉ, es handele sich um einen "klaren Bruch internationalen Rechts". Und London?

Für die Regierung in London, für die das Nordirland-Protokoll in der öffentlichen Ansprache ja ohnehin höchstens ein Nebenschauplatz ist, kommen die neuen Turbulenzen in Nordirland gar nicht so ungelegen. Für Donnerstag war schon länger ein Gespräch geplant zwischen den beiden Verhandlungsführern, dem EU-Kommissions-Vizepräsidenten Maroš Šefčovič und der britischen Außenministerin Liz Truss. Sie werde die Entscheidung Nordirlands, keine Lebensmittel mehr zu kontrollieren, zwar nicht gutheißen, aber auch nicht überstimmen, hieß es am Donnerstag. Truss, derzeit nach einer Corona-Infektion in Isolation, werde gleichzeitig den Rücktritt Givans dazu nutzen, der EU erneut mitzuteilen, dass das Protokoll offensichtlich nicht funktioniere und also neu verhandelt werden müsse. Zu besseren Konditionen für das Vereinigte Königreich, versteht sich.

EU-Abgeordnete beharren: Ohne wirksames Protokoll kein zollfreier Handel

Entsprechend groß ist der Unmut im Europaparlament. Anna Cavazzini, die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, sagt, der Verzicht auf Kontrollen stelle "die Integrität des EU-Binnenmarkts in Frage". Werfe die britische Regierung "das Austrittsabkommen de facto in den Papierkorb, muss das Konsequenzen haben". Die Grünen-Abgeordnete verweist darauf, dass das Nordirland-Protokoll "Vorbedingung für das Handelsabkommen" mit der EU gewesen sei - sprich: ohne wirksames Protokoll kein zollfreier Handel.

Die Kontrollen waren allerdings schon vor diesem Donnerstag unzureichend aus Sicht der EU. Ein Untersuchungsbericht der Kommission kommt zu dem verheerenden Urteil, dass das System "nicht mit EU-Regeln übereinstimmt" und "keine ausreichende Sicherheit bieten kann", dass nur Lebensmittel eingeführt werden, die EU-Standards entsprechen.

Boris Johnson war am Donnerstag in Blackpool, um die Erweiterung des historischen Tramliniennetzes zu begutachten, er trug eine neongelbe Signalweste über dem Anzug, als er am Nachmittag vor eine TV-Kamera trat. Zum Nordirland-Protokoll, "das Sie bestimmt detailliert studiert haben", wie er dem Reporter grinsend sagte, sei festzustellen, dass es doch "crazy" sei, Waren zwischen Nordirland und England zu kontrollieren. Er freue sich, sagte Johnson, dass die Gespräche weitergingen.

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