Nordirland-Frage:"Der Brexit trifft auf einen fragilen Frieden"

Michel Barnier Visits The UK / Irish Border

Frühjahr 2018: Die irisch-nordirische Grenze ist beinahe unsichtbar.

(Foto: Getty Images)

Nach 20 Jahren drohen auf der irischen Insel wieder Schlagbäume und neue Gewalt. Brexit-Experte Nicolai von Ondarza spricht über die Probleme in der Nordirland-Frage.

Interview von Thomas Hummel

Der Brexit soll am 29. März 2019 Realität werden, doch in zentralen Fragen ist zwischen der Europäischen Union und der britischen Regierung noch keine Einigung erzielt. Vor allem die Frage, wie man zwischen Nordirland und Irland eine harte Grenze verhindern kann, ist ungelöst. Dabei lehrt die Geschichte, dass es hier um Krieg und Frieden geht. Nicolai von Ondarza, 36, ist Leiter der Forschungsgruppe EU und Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, die unter anderem die Bundesregierung berät. Er flog am Dienstag nach London zu einer Brexit-Konferenz.

SZ: Wie schätzen Ihre Kollegen in London den neuesten Stand der Verhandlungen ein?

Nicolai von Ondarza: Es ist eine festgefahrene Lage. Die EU hat ihre Bedingungen klar formuliert. Die britische Innenpolitik ist aber so chaotisch, dass niemand weiß, wie lange Theresa May als Premierministerin überlebt und was für ein Ergebnis sie durchs Parlament bringen würde. Hier in London sind mehrheitlich proeuropäische Briten anwesend, die ohnehin die Regierung kritisieren. Aber einen Ausweg aus dem Schlamassel kennt hier niemand.

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Was wird am 30. März, also am Tag nach dem Brexit, an der inneririschen Grenze passieren?

Das ist völlig unklar. Kommt es zu einer Einigung zwischen EU und Großbritannien, dann tritt eine Übergangsphase in Kraft bis mindestens Ende 2020, in der die Grenze offen bleibt. Gibt es keine Einigung und Großbritannien fliegt ohne Regeln aus der EU, dann müsste es Grenzkontrollen geben.

Es gibt mehr als 200 Übergänge zwischen Nordirland und Irland. Wie soll das logistisch funktionieren, praktisch über Nacht überall Schlagbäume zu errichten?

Das ist quasi nicht zu machen. Es ist eine historisch gewachsene Grenzlinie, wo es an vielen Stellen keine natürlichen Grenzen wie Berge oder Flüsse gibt. Es ist teilweise so, dass die Kirche auf der einen Landesseite steht und der Friedhof auf der anderen. Oder nordirische Bauernhöfe, deren Ländereien in der Republik Irland liegen. Derzeit ist die Grenze praktisch unsichtbar. Im Alltag spürt man sie nur, weil nach der Überfahrt am Handy eine SMS des Netzanbieters zu Roaming-Informationen kommt.

Wie stark ist der Friedensprozess durch Schlagbäume gefährdet?

Das wäre ein katastrophales Zeichen. Bis zum sogenannten Karfreitagsabkommen vor 20 Jahren kontrollierte das Militär die Grenze. Sie war Teil eines harten Konflikts. Die Angst geht um, dass selbst leichte Formen von Grenzkontrollen wie eine Kameraüberwachung für Lkws den Frieden in Gefahr bringen.

In der nordirischen Nationalversammlung herrscht ein Patt zwischen den Briten-freundlichen Unionisten und den Irland-freundlichen Nationalisten, weshalb wichtige Entscheidungen seit fast zwei Jahren in London getroffen werden. Das hört sich nicht nach Versöhnung an.

Nicolai von Ondarza

Nicolai von Ondarza, Leiter der Forschungsgruppe EU und Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

(Foto: privat)

Man hat es geschafft, den Konflikt in den vergangenen 20 Jahren einzufrieren, aber nicht, ihn zu lösen. Zuletzt ist er vermehrt wiederaufgebrochen. Deshalb gelingt es in Belfast auch nicht, eine Regierung aufzustellen. Die Politik in Nordirland ist total blockiert. Jetzt unterstützt die probritische DUP die Minderheitsregierung von May in London und sieht eine Chance, Nordirland unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Brexit trifft auf einen fragilen Frieden.

Es ist von einem "Backstop" für Nordirland die Rede. Was ist das?

Der Begriff kommt aus dem Baseball und bezieht sich auf den Catcher, der auf jeden Fall den Ball auffangen soll, wenn ihn der Schlagende verpasst. Im Brexit-Prozess bezeichnet der Backstop eine Auffanglösung, eine Notfalllösung, um eine offene Grenze zwischen Nordirland und Irland zu garantieren. Er muss dafür sorgen, dass keine Zollkontrollen notwendig sind. Und dass gewisse Regeln weiterhin zwischen den Inselteilen gelten, wie beim Tierschutz oder dem Strommarkt. Eigentlich hatte May den Backstop an sich akzeptiert, aber nur das Prinzip. Als die EU einen Text vorlegte, haben die Briten sofort abgelehnt.

Wie steht es um die Möglichkeit, Nordirland einen Sonderstatus zu verleihen und die Zollgrenze in die Irische See zu verlagern?

Die EU schlägt das vor. Das würde aber Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest von Großbritannien zur Folge haben. Die Briten wollen stattdessen erreichen, dass ein nordirischer Sonderstatus für ganz Großbritannien gelten soll. Doch das lehnen die Europäer ab. Man darf nicht vergessen, dass Nordirland zwei Prozent der britischen Wirtschaftsleitung ausmacht. Das ist ein kleiner Bereich, da kann man eine Ausnahme machen. Großbritannien als Ganzes ist aber die zweitgrößte Volkswirtschaft Europas, der enorme wirtschaftliche Vorteile erwachsen würden. Das will die EU nicht zulassen.

Liegt es nicht auch im Interesse des EU-Mitglieds Irlands, dass auf der Insel keine harte Grenze entsteht?

Klar, Grenzkontrollen ab März sind auch für Irland die schlechteste Lösung. Deswegen wird die EU auch alles daran setzen, um eine Einigung mit Großbritannien zu erreichen. Zuletzt deutet sich ein Kompromiss an, wobei der Zollaspekt des Backstops auf ganz Großbritannien ausgeweitet wird, die Binnenmarkt-Regeln jedoch nur für Nordirland gelten. Aber das stößt auf massiven Protest der Brexit-Hardliner innerhalb Mays Konservativer Partei. Die wollen aus der Zollunion und dem Binnenmarkt raus, um eigene Abkommen mit Drittstaaten wie den USA verhandeln zu können. Sie drohen mit einem Nein im Parlament und haben genug Stimmen, um einen Deal zu Fall zu bringen. Deshalb ist die Nordirland-Problematik derzeit die Quadratur des Kreises.

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