Süddeutsche Zeitung

Brexit:May verzeichnet kleinen Sieg

  • Das britische Unterhaus stimmte mit großer Mehrheit gegen den ausgehandelten Brexit-Vertrag.
  • Zumindest das anschließende Misstrauensvotum übersteht Theresa May - mit 19 Stimmen Mehrheit.
  • Der Rest der EU blickt ratlos nach London - und fordert von den Briten Klarheit über den weiteren Kurs.

Von Björn Finke, London, und Alexander Mühlauer, Brüssel

Nach dem deutlichen Nein des britischen Unterhauses zum Brexit-Vertrag haben Politiker in ganz Europa vor einem chaotischen EU-Austritt Großbritanniens gewarnt. Das Risiko dafür sei "so hoch wie noch nie", sagte der Brexit-Chefverhandler der Europäischen Union, Michel Barnier, am Mittwoch in Straßburg. Er forderte London auf, neue Lösungsvorschläge vorzulegen. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, es gebe zwar "noch Zeit zu verhandeln, aber wir warten jetzt auf das, was die britische Premierministerin vorschlägt". Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte von London Klarheit über den weiteren Weg. Der Druck, eine Lösung zu finden, laste nun vor allem auf Großbritannien.

Das britische Unterhaus hatte den mit der EU mühsam ausgehandelten Austrittsvertrag mit unerwartet großer Mehrheit abgelehnt: 432 Abgeordnete stimmten gegen das Abkommen, nur 202 votierten dafür. Nach der klarsten Niederlage, die eine britische Regierung jemals im Parlament hinnehmen musste, konnte Premierministerin Theresa May dafür am Mittwoch einen Sieg verzeichnen. Die Konservative gewann die Misstrauensabstimmung, die Oppositionsführer Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei, direkt nach der Ablehnung des Brexit-Vertrags beantragt hatte. 325 Abgeordnete sprachen der Regierung das Vertrauen aus, 306 drückten ihr Misstrauen aus. Bei einem Erfolg der Opposition wäre es zu Neuwahlen gekommen.

Beim Brexit-Votum hatte noch ein gutes Drittel der konservativen Abgeordneten seiner Parteichefin und Premierministerin May die Gefolgschaft verweigert. Diese Abweichler haben allerdings kein Interesse an Neuwahlen, weswegen sie May beim Misstrauensantrag unterstützten.

Nach bisheriger Planung werden die Briten die EU am 29. März verlassen - nach 46 Jahren. Billigt das britische Parlament den Austrittsvertrag nicht, fiele die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich bis mindestens Ende 2020 nicht viel für Bürger und Unternehmen ändern soll. Stattdessen würden Zölle und Zollkontrollen eingeführt; die Wirtschaft im Vereinigten Königreich und auch in vielen EU-Staaten, etwa Deutschland, würde massiv leiden.

May gab am späten Abend vor dem Regierungssitz eine Erklärung ab. Sie äußerte sich enttäuscht über die Weigerung der Labour-Opposition, an Gesprächen aller Parteien über das weitere Vorgehen teilzunehmen. Sie mahnte alle Abgeordneten müssten nun das nationale Interesse über ihr eigenes stellen. May sagte, es sei ihre Pflicht, dem Auftrag der Wähler nachzukommen, die EU zu verlassen. Die Premierministerin will das Parlament am Montag über ihre weiteren Pläne informieren. Bei einer Debatte im Europäischen Parlament brachten viele Abgeordnete ihr Bedauern über die Ablehnung des Vertrags zum Ausdruck - und ihre Ratlosigkeit. "Bitte, bitte, bitte, sagen Sie uns endlich, was Sie erreichen wollen", appellierte Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei für die Europawahl im Mai, an die britischen Parlamentarier.

Die EU und die Mitgliedstaaten rüsten sich derweil für sämtliche Szenarien. Merkel erklärte, die Bundesregierung sei auch auf einen ungeordneten Brexit vorbereitet. Macron hält es wiederum für wahrscheinlich, dass die Briten nachverhandeln und erneut im Parlament abstimmen wollen. Er sei aber vom Sinn von Nachverhandlungen nicht sonderlich überzeugt.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker habe eine gemeinsame Linie mit den europäischen Hauptstädten abgesteckt, sagte sein Sprecher am Mittwoch. "Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nichts, was die EU noch tun könnte", erklärte er. Die Kommission wies erneut die zentrale Forderung aus Großbritannien zurück, die umstrittene Auffanglösung zur Vermeidung von Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland zeitlich zu begrenzen. Aus EU-Kreisen verlautete allerdings, dass es in einigen Mitgliedsstaaten Überlegungen gebe, doch noch einmal über diesen sogenannten Backstop zu verhandeln. Möglich wäre zudem, den Austrittsprozess über den 29. März hinaus zu verlängern. Darüber will die EU aber erst beraten, wenn May ihren Plan B vorgelegt hat.

Schatzkanzler Philip Hammond versuchte nach der Ablehnung des Brexit-Vertrags, Vertreter der Wirtschaft in einer Telefonkonferenz zu beruhigen. Er brachte eine Verschiebung des Austritts ins Spiel. Verbände und Konzernchefs warnen vor den Folgen eines Brexit ohne Vertrag.

Allerdings gilt es als unwahrscheinlich, dass May jetzt schon um so eine Verlängerung bittet. Gelingt es ihr, in Brüssel Zugeständnisse beim umstrittenen Backstop auszuhandeln, könnte sie den Vertrag ein zweites Mal zur Abstimmung stellen. Das Kalkül wäre, dass diese Änderungen und vor allem der näher rückende Austrittstermin genug Parlamentarier überzeugen, das Abkommen doch noch zu billigen. Denn genau wie die Regierung will auch die große Mehrheit der Abgeordneten quer durch alle Parteien einen chaotischen Brexit ohne Vertrag, dafür mit Zöllen und Kontrollen, verhindern. Eine frühe Verlängerung des Austrittsprozesses würde den Druck auf die Parlamentarier mindern.

Bei der Debatte über den Misstrauensantrag sagte Labour-Chef Corbyn, die Regierung habe "unser Land im Stich gelassen, sie kann nicht regieren". May erwiderte, Neuwahlen zu diesem heiklen Zeitpunkt würden "die Spaltung vertiefen, wenn wir Einigkeit brauchen, würden Chaos schaffen, wenn wir Sicherheit brauchen, und würden zu einer Verzögerung führen, wenn wir vorangehen müssen".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4291377
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.01.2019/lalse
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.