Brexit:Fragt das Volk

Brexit-Gegner vor dem Parlament in London

Die britische Öffentlichkeit ist zerrissen, die Parteien werden lediglich durch das archaische Wahlrecht und die Aussicht auf den Machterhalt beziehungsweise -verlust zusammengehalten.

(Foto: AFP)

Der Austrittswunsch hat die britische Politik in einen Ausnahmezustand versetzt. So aber lassen sich keine vernünftigen Entscheidungen fällen. Das Land braucht mehr Zeit - und eine neue Abstimmung.

Kommentar von Stefan Kornelius

Zwei Jahre, sieben Monate und fünf Tage nach ihrem Referendum wissen die Briten noch immer nicht, ob, wie und wann sie ihre neue Freiheit genießen können und was exakt das Leben außerhalb der Europäischen Union so verlockend machen soll. Die Debatte ist, um es milde auszudrücken, außer Kontrolle geraten.

Die britische Öffentlichkeit ist zerrissen, die Parteien werden lediglich durch das archaische Wahlrecht und die Aussicht auf den Machterhalt beziehungsweise -verlust zusammengehalten. Das Parlament ist zu einer Ansammlung rivalisierender, taktierender, intrigierender oder desorientierter Hasardeure reduziert. Es fehlt an Führungskraft, Entschlossenheit und Klarheit - politische Kardinaleigenschaften, die von der Premierministerin nicht mehr zu erwarten sind. Genauso wenig wird der Appell der 92-jährigen Königin zu einem messbaren Anstieg des Vernunftpegels führen. Was also tun?

Man wird selbst in Großbritannien wenig Widerspruch ernten, wenn man feststellt, dass der Wählerauftrag - raus aus der EU - wenig durchdacht und wenig präzise formuliert war. Dies ist der Kern der britischen Misere. Inzwischen weiß man: Der Streit um die exakte Bedeutung des Austrittswunsches berührt fundamentale Fragen der Souveränität, des staatlichen Zusammenhaltes, der inneren und äußeren Sicherheit. Er wird eben nicht nur über Wirtschaft und Wohlstand entschieden, sondern auch über die Zukunft der Länder Schottland, Wales und England, die sich zu einer Union zusammengeschlossen haben. Es wird entschieden über Krieg und Frieden - oder weniger dramatisch: ob es in der Provinz Nordirland Unruhen geben kann und ob der Wunsch nach einer irischen Vereinigung aus der Gruft emporsteigt.

Weil Regierung und Parlament durch eine Kette falscher Entscheidungen Zeit vergeudet und zusätzliche Probleme kreiert haben, ist es nicht mehr vorstellbar, dass der Austritt bis zum 29. März geregelt werden kann. Selbst der vage Vorschlag der Premierministerin sieht im Kern ja vor, dass über die eigentliche Anbindung des Landes an die EU in den darauffolgenden zwei Jahren verhandelt werden muss. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich dann den Streit über das vermeintlich Kleingedruckte vorzustellen.

Exakt aus diesem Grund besteht die EU auf dem Notfallplan zu Nordirland - dass also nach der Zwei-Jahres-Frist eine Zollunion bestehen bleibt, sollte es kein Einvernehmen geben. Würde die EU diese Bedingung streichen, gäbe sie alle Verhandlungsmacht aus der Hand und öffnete den Anhängern eines harten Brexits ein Einfallstor zur Beschädigung der EU. Die müssten nur warten, bis der Kalender das gewünschte Ergebnis liefert.

In den kommenden Wochen wird die Austrittshysterie wachsen

Wie man es dreht und wendet: Die britische Politik braucht Zeit. In den kommenden Wochen werden Parlament und Regierung um die Entscheidungshoheit ringen. Theresa May wird bis kurz vor Ablauf der Frist ihren Verzögerungsplan wieder und wieder zur Abstimmung vorlegen, weil er am Ende die bessere Alternative zu einem chaotischen Abgang liefert. Das grenzt an Erpressung. Alle Initiativen geben aber keine Antwort auf das eigentliche Problem: Welche Bindung an die EU wollen die Briten?

Solange sich das Parlament selbst blockiert und die Regierung Ausweichmanöver fährt, bleibt nur die Möglichkeit, die Wähler selbst zu fragen - entweder in einer Wahl oder in einem neuerlichen Referendum. Beide Wege bieten Vor- und Nachteile. Eine Wahl würde das Prinzip der repräsentativen Demokratie stärken - die Entscheidung gehört in ihrer Komplexität ins Parlament. Aber: Eine Wahl bietet keine Alternativen, die Parteien sind ja in sich zerstritten, Brexiteers und Remainer gibt es überall. Das Chaos würde also im neuen Parlament fortgesetzt.

Eine neue Volksabstimmung braucht Zeit zur Vorbereitung und könnte schon bei der Suche nach der exakten Formulierung scheitern. Aber das Parlament könnte argumentieren, dass die Politik durch das letzte Referendum vor eine unlösbare Aufgabe gestellt wurde. Nur ein zweites Votum kann also Klarheit über den Wählerwunsch schaffen. Denkbar wäre, drei Optionen zur Wahl zu stellen: eine Freihandelszone mit einer harten Irland-Grenze; eine Zollunion; oder eine Anbindung an den Binnenmarkt.

All das muss reifen. Deswegen sollte die EU das größte Hindernis aus dem Weg räumen und anbieten, das Austritts-Prozedere auf unbestimmte Zeit zu stoppen. Zwar wird bald ein neues EU-Parlament gewählt (und die Briten werden wohl nicht zu den Urnen gehen). Aber selbst für die berechtigte Frage der Repräsentation britischer Wähler in Brüssel und Straßburg ließe sich eine Lösung finden. Das Unterhaus könnte zum Beispiel für die Übergangsphase Abgeordnete entsenden.

In den nächsten Wochen wird die Austrittshysterie wachsen. Der Brexit ist aber eine so ernste Angelegenheit, dass er besonnen und nicht im mentalen Ausnahmezustand entschieden werden sollte.

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