Süddeutsche Zeitung

Brexit-Aufschub:London wird wohl bald wieder betteln

Die britische Regierungschefin versucht die Brexit-Verschiebung als Erfolg zu verkaufen. Aber ein Kompromiss im Unterhaus ist nicht in Sicht. Die Kämpfe werden weitergehen.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

Theresa May versuchte auch noch mitten in der Nacht in Brüssel, nach sechsstündigem, einsamen Warten auf ein Urteil in eigener Sache, das Ergebnis des Gipfels als Erfolg zu verkaufen. Großbritannien könne es immer noch schaffen, könne in wenigen Wochen aus der EU austreten, könne die Europawahl vermeiden - nur müsse eben das Parlament in London ihrem Deal zustimmen. Dann, so das Mantra von May, werde sie "den Brexit liefern, für den das Volk gestimmt" habe.

Aber ein Erfolg sieht anders aus. Weniger, weil sie es nicht vermocht hat, sich mit ihrem Plan einer möglichst kurzen Verschiebung des Austrittsdatums durchzusetzen. Sondern vielmehr, weil sie einmal mehr in Brüssel herumsitzen musste wie eine Bittstellerin, die von einer Entscheidung der EU-27 abhängt. Insofern kann es die Premierministerin schon als Vorteil verbuchen, dass die Kommission keine Handhabe sieht, ein Wohlverhalten der Briten in der Union zu erzwingen. Das wäre dann die ultimative Demütigung für May gewesen.

May kann den Brexit - und sich selbst - also nur durch einen Deal in den kommenden sechs Wochen retten

Der allseits beliebte und prominente Tory-Abgeordnete Kenneth Clarke eilte ihr am Morgen danach zur Hilfe, als er in der BBC mitteilte, der Grund für die schwierige Lage, in der sich May und der Brexit befänden, sei vor allem auf das unerträgliche Verhalten der Hardliner in der eigenen Partei zurückzuführen, die keinen Deal, sondern nur Macht wollten. Aber das half nichts. Die britischen Medien, und mit ihnen viele Briten, hatten ihr Urteil gefällt: Mays Bittgang nach Brüssel, zwei Wochen nach dem ersten und zwei Tage vor dem zweiten, bereits verschobenen Austrittsdatum, sei "eine größere Demütigung als die Erniedrigung der Briten in der Suezkrise". Die Suezkrise hatte 1956 dazu geführt, dass Großbritannien seine Großmachtambitionen endgültig aufgeben musste; sie ist bis heute ein nationales Trauma im Vereinigten Königreich.

Die Kernfrage ist nun, wie die britische Regierung die Zeit bis Ende Mai nutzen will, um doch noch einen Kompromiss im Parlament zu organisieren und ordentlich aus der EU auszutreten. May will, zu Recht, die Teilnahme an den Wahlen zum Europaparlament vermeiden, die nationalistischen und europafeindlichen Kräften in Großbritannien starken Auftrieb geben dürften. Und sie will vermeiden, dass die Tories ihre eigene Premierministerin noch mehr als bisher schon zu einer Marionette degradieren, die Befehle aus der rechten Ecke der eigenen Fraktion entgegennehmen muss. May hatte zudem im Parlament gesagt, sie sehe sich als Premierministerin nicht in der Lage, eine Verschiebung des Austritts über den 22. Mai hinaus zu rechtfertigen - auch das wird ihr nun von den eigenen Leuten vorgehalten, auch deswegen wird sie massiv zum Rücktritt gedrängt.

May kann den Brexit - und sich selbst - also nur durch einen Deal in den kommenden sechs Wochen retten. Aber die Chancen dafür sind gering. Die Befürworter eines zweiten Referendums wittern Morgenluft, und die Fans eines Verbleibs in der EU erst recht. Labour muss nur zuschauen, wie sich die Tories weiter zerlegen, die Kompromissbereitschaft der Linken dürfte parallel zur Schwächung zur Regierung nicht unbedingt wachsen.

Die politischen Kämpfe werden weitergehen, die Radikalisierung dürfte weiter zunehmen. Ein Kompromiss rückt damit in weite Ferne. In London werden deshalb zwei Wetten heiß gehandelt: Das Königreich wird Mitte Oktober auf einem EU-Gipfel erneut um eine Verlängerung betteln. Und zur aktuellen Deadline, dem Halloween-Tag am 31. Oktober, werden Horror-Masken mit den Gesichtern von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Theresa May besonders gut gehen.

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