Süddeutsche Zeitung

Abstimmung über Brexit-Deal:Die klarste Niederlage, die eine britische Regierung je erlitten hat

  • Mit unerwartet großer Mehrheit lehnen die Abgeordneten im britischen Unterhaus den von London und Brüssel ausgehandelten Brexit-Vertrag ab.
  • Auch sehr viele Konservative verweigern Regierungschefin May die Gefolgschaft.
  • Oppositionsführer Corbyn beantragt direkt nach Bekanntgabe des Ergebnisses ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin.
  • Die EU bedauert das Ergebnis der Abstimmung.

Von Björn Finke, London

Das britische Parlament hat am Dienstagabend Premierministerin Theresa May eine schwere Niederlage zugefügt - und das Risiko eines chaotischen Brexit erhöht. Die Abgeordneten lehnten mit unerwartet großer Mehrheit den Austrittsvertrag ab, auf den sich London und Brüssel nach langen Verhandlungen geeinigt hatten.

432 Parlamentarier stimmten gegen das Abkommen, nur 202 dafür. Mays Konservative verfügen über 317 Mandate; ein gutes Drittel der eigenen Abgeordneten hat ihr die Gefolgschaft verweigert. Es ist die klarste Niederlage, die eine britische Regierung im Parlament je erlitten hat. Die Europäische Union reagierte enttäuscht auf das Votum: "Wenn ein Deal unmöglich ist und niemand einen No-Deal will, wer wird den Mut haben zu sagen, wie die einzige positive Lösung aussieht?", fragte Ratspräsident Donald Tusk auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Oppositionsführer Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei, beantragte direkt nach Bekanntgabe des Ergebnisses ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin. Darüber werden die Abgeordneten bereits an diesem Mittwochabend abstimmen. Bei einem Sieg der Opposition käme es zu Neuwahlen. Doch gilt ein Erfolg des Antrags als unwahrscheinlich: Viele Rebellen bei den Konservativen, die den Austrittsvertrag ablehnen, haben zugleich kein Interesse an Neuwahlen und werden daher vermutlich May unterstützen.

Am 29. März sollen die Briten nach bisheriger Planung die EU verlassen - nach 46 Jahren. Der Brexit-Vertrag soll eine geordnete Trennung sicherstellen. Doch dem Abkommen müssen sowohl das britische als auch das EU-Parlament zustimmen.

Ohne gültigen Vertrag fiele die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich für Bürger und Firmen bis mindestens Ende 2020 nicht viel ändern soll. Stattdessen würden sofort Zölle und Zollkontrollen eingeführt. Doch die Häfen im Königreich und auf dem Festland sind nicht auf Zollkontrollen vorbereitet, weswegen Chaos und Staus drohen. Der stete Nachschub für Supermärkte und Fabriken wäre gefährdet.

Dabei führt Großbritannien fast ein Drittel seiner Lebensmittel vom Festland ein; Fabriken halten nur Teile für wenige Produktionsstunden vorrätig. Unternehmerverbände warnen daher seit Wochen eindringlich vor den Folgen eines Austritts ohne Abkommen.

May sagte nach der Niederlage, das Parlament habe gesprochen, "und die Regierung wird zuhören". Es sei klar, dass die Abgeordneten den Vertrag ablehnten, doch es sei nicht klar, was sie stattdessen forderten. Die Premierministerin kündigte an, mit Vertretern aller Parteien zu sprechen und auszuloten, welche Änderungen nötig seien, um doch noch die Zustimmung des Parlaments zu finden. Sei das klar, werde die Regierung diese Vorschläge mit der EU diskutieren.

"Das ist für jeden von uns die wichtigste Abstimmung seiner politischen Laufbahn"

Brexit-begeisterten Abweichlern bei den Konservativen missfällt vor allem der "Backstop" im Austrittsvertrag. Diese Auffanglösung soll verhindern, dass jemals Zollkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland nötig sein werden. Die Brexit-Vorkämpfer befürchten, dass die Klausel das Königreich auf Dauer in einer engen Bindung an die EU gefangen halten könnte. Auch die nordirische Partei DUP lehnt das Abkommen deswegen ab. May ist seit den verlorenen Parlamentswahlen 2017 auf die Unterstützung dieser Partei angewiesen.

Um May zu helfen, hatte die EU kurz vor der Abstimmung in einem Brief versichert, dass die Europäische Union den Backstop nicht als Dauerlösung ansehe. Die lange und teilweise hitzige Parlamentsdebatte am Dienstag zeigte aber, dass dies die Kritiker nicht überzeugen konnte. Zugleich offenbarten die Diskussionen, wie tief die Spaltung bei den Konservativen ist. Der frühere Brexit-Minister Dominic Raab, der aus Protest gegen Mays Kurs zurückgetreten war, nannte den Vertrag das "schlimmstmögliche Risiko" für Wirtschaft und Demokratie im Königreich.

May hingegen sagte vor der Abstimmung, der Vertrag schaffe Planungssicherheit für die Wirtschaft und erfülle zugleich die Versprechen der Brexit-Kampagne. Das Parlament stehe vor einer historischen Entscheidung: "Das ist für jeden von uns die wichtigste Abstimmung seiner politischen Laufbahn", sagte sie. Die Alternativen zum Vertrag - ein ungeregelter Austritt, ein zweites Referendum oder Neuwahlen - würden nur Ungewissheit und Probleme bringen. Und ein besseres Abkommen auszuhandeln, sei nicht möglich.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bedauerte das Ergebnis. Das Risiko eines ungeordneten Austritts sei damit gestiegen. Man hoffe, dieses Szenario zu vermeiden, bereite sich aber darauf vor. Das Vereinigte Königreich müsse nun seine Absichten so bald wie möglich klarmachen: "Die Zeit ist beinahe abgelaufen." Bundesfinanzminister Olaf Scholz schrieb auf Twitter, dies sei "ein bitterer Tag für Europa".

May könnte nun versuchen, von Brüssel weitere Zusicherungen zu erreichen, dass der Backstop nicht oder nur zeitlich begrenzt genutzt werden soll. Möglich wäre auch, den Austritt um wenige Monate zu verschieben. So bliebe mehr Zeit, die Blockade in London aufzulösen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4289737
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.01.2019/gal
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.